Das Ländchen der Liebe

Wo ist das schöne Blütenland
Der Liebe nur gelegen?
Wo öffnet sich die Felsenwand
Zu seinen Zauberwegen?
Ich weiß davon, und was ich weiß,
Das will ich nicht verhehlen;
Das Land umfaßt euch einen Kreis
Von Auen, kaum zu zählen.

Einst stand ich hoch am Felsenhang
Und sah in's Thal hinunter,
Da sah ich gehn das Thal entlang
Mein Liebchen, schön und munter;
Da schien mir rings die Bergeswand
Zu glühn von Blütentriebe, —
Der schöne Fels, auf dem ich stand,
War mir das Land' der Liebe.

Einst schlendert' ich im Thale da
Und sah zum Felsgesteine, —
Und sah und stand und stand und sah,
Mein Lieb im Sonnenscheine.
Mein Auge hing am Felsenring,
Als ob es haften bliebe, —
Das schöne Thal, durch das ich ging,
War mir das Land der Liebe.

Einst zog ich an des Liebchens Arm
Auf langer öder Haide:
Ihr Auge Glut, mein Busen warm
Von lauter Abendfreude,
Die Luft war still, die Brust so weit,
Als ob sie's aufwärts hübe:
Die stille Haid, so wüst und breit,
Schien uns das Land der Liebe.

Im Mantel barg ich's Liebchen mein
Und hielt es warm zur Seite,
Bey Donnersturm und Blitzesschein,
Und gab ihm das Geleite.
Der Wald war öd, der Sturm war kalt,
Als ob er Flocken triebe;
Jedennoch galt der wilde Wald
Uns für das Land der Liebe.

Und solches weiß vom Blütenland
Der Lieb' ich euch zu sagen:
Wer nicht verstand, wer nicht empfand,
Der möge weiter fragen.
Ihr trefft auf Keinen, glaubt mir fest,
Der's treuer euch beschriebe:
Wo sich das Liebchen sehen läßt,
Dort ist das Land der Liebe.

Aus: Johann Gabriel Seidl's Dichtungen Erster Theil
Balladen, Romanzen, Sagen und Lieder
Wien Druck und Verlag von J. P. Sollinger 1826

Collection: 
1826

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