Es kommt aus West am Maientag
Schmelzend ein Hauch gezogen;
Von frischem Laub ist grün der Hag,
Der Grabesstaub verflogen.
Wir brauchen der Blumen nicht länger zu warten:
Die Mutterlieb' in Lilienpracht
Und die Rose der Sinne ist glühend entfacht;
All Leben erwacht
In der Liebe sonnigem Garten.
Der Sommer nah, der Winter fern,
Stark ist des Lebens Walten;
Und jede Blume will auch gern
Zur Frucht sich noch entfalten.
Wir ahnen der künftigen Lenze Schimmer,
Wir schaun, wie rings ein jegliches Beet
Voll lebender strebender Keimchen steht -
Der Lenzhauch weht,
Und an's Sterben denken wir nimmer!
Aus: Gedichte von Gottfried Kinkel Zweite Sammlung
Stuttgart Verlag der J. G. Cotta'schen Buchhandlung 1868
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