Uns zur Seiten alle Stunden
Gehn geliebte Todte mit,
Und Geschlechter, die geschwunden,
Stäuben auf bei unserm Tritt.
Doch auch durch die Himmelsräume
Täglich strahlt das Morgenroth -
Aus den Gräbern wachsen Bäume
Und das Leben aus dem Tod.
Ihre Ehre sei den Todten,
Feig ist's, die Erinnrung scheun!
Doch den Lebenden geboten
Ward's, des Lebens sich zu freun.
Was wir jauchzend einst genossen
Mit des Herzens vollem Schlag,
Sei es in die Nacht zerstossen -
Unser ist der wache Tag!
Bis auch meine Pulse stocken,
Halt' ich dich, mein Lieb, im Arm,
Und auch unter'm Schnee der Locken
Klopft das Herz noch voll und warm.
Löse drum des Schweigens Siegel
Von den Lippen frank und frei,
Da mir deiner Seele Spiegel
Offenbar und heiter sei.
Frisch, wie jung mit jedem Lenze
Aufersteht das frohe Grün,
Laß auch deiner Minne Kränze
Um das schneeige Haupt mir blühn!
Aus: Gedichte von Gottfried Kinkel Zweite Sammlung
Stuttgart Verlag der J. G. Cotta'schen Buchhandlung 1868