Hörst Du das Lied?

Vom neuen Schmerz das alte Lied,
Hörst Du sein schallen?
Die Schwalbe singt's, die südwärts zieht,
Es rauscht's der Blätter Fallen:

Das alte Lied vom Trennungsleid,
Von gramerbleichten Wangen,
Von früh zerstörter Seligkeit,
Von einsam stillem Bangen.

Wenn kahl die Bäume, rauh die Luft,
Die Vöglein scheu entfliehen,
Nur eins, das krank zurückbleibt, ruft, -
Das sind die Melodien!

Dem tönt es, der mit heißem Schmerz,
Beim dumpfen Glockenbeben,
Ins Grab gesenkt ein teures Herz,
Das ihn beglückt im Leben.

Des Grabgeläutes düst'rer Schall
Beim hoffnungslosen Scheiden,
Aufs Bretterhaus der Schollen Fall, -
Das ist solch Lied vom Leiden!

Der hört es auch, dem nicht der Tod
Die Trennungswund' geschlagen,
Der seinem Liebchen, frisch und rot,
Auf ewig mußt' entsagen.

Nicht nur im dumpfen Glockensang,
In dürrer Blätter Rauschen, -
Er wird des alten Liedes Klang
In jedem Ton erlauschen.

Er hört's im kerzenhellen Saal,
Im fröhlichen Gedränge,
Ihm tönt das Lied von seiner Qual
In seiner Kammer Enge.

Ihm duften es ins Herze bang
Die Rosen selbst, die stummen;
Er lauscht ihm in der Vöglein Sang,
Wie in der Bienchen Summen.

Hörst Du das Lied? Es ist so alt,
Doch reich an neuen Schmerzen,
Und wem es je ins Ohr gehallt, -
Dem wird so weh im Herzen.

aus: Deutsche Dichterin[n]en und Schriftstelerin[n]en
in Wort und Bild
Herausgegeben von Heinrich Groß
II. Band Berlin 1885

Collection: 
1885

More from Poet

  • Nicht wie ein Blitz durch Wolken bricht,
    Ist mir mein Leid gekommen;
    Des Glückes Traum, der Liebe Licht,
    In Nebel ist's verschwommen.

    Allmählich, wie die Dämmrung trüb
    Verhüllt des Tages Helle,
    So wurde dunkler...

  • Da sitz' ich und spinne,
    Und heimlich ich sinne,
    Wie ich es beginne,
    Daß Glück ich gewinne.

    Da geht er vorüber,
    Mein Süßer, mein Lieber,
    Die Augen, die blauen,
    Nach mir nur sie schauen!

    ...

  • Du bist's nicht wert, daß ich mich gräme,
    Ich weiß es wohl, Du bist's nicht wert;
    Daß ich mich meiner Thräne schäme,
    Ist, was zumeist mein Herz beschwert.
    Hätt' uns des Schicksals Spruch geschieden,
    Gewalt von außen uns getrennt...

  • Es war die Zeit der Rosen,
    Als Du um mich gefreit,
    Ein Duften, Blüh'n und Kosen
    Gieng über die Erde weit.

    Wie heiß die Strahlen glühten
    In unsern Liebestraum,
    Wie voll die Rosen blühten, -
    Die andern...

  • Die Biene schwärmt im Garten ganze Stunden,
    Und Lieder leise summt sie vor sich her, -
    Doch wenn die schönste Blume sie gefunden,
    Saugt sie sich fest daran und summt nicht mehr.

    So mögest Du nicht meinem Schweigen grollen,
    Die...