Frühlingsmorgen

Küßt das Licht den jungen Morgen,
Fällt der Thau auf Blüt' und Blatt,
Hei, wie wandert sich's da lustig
Durch die grüne Waldesstatt!

Tönt so hell der Quelle Rauschen,
Lacht das Grün so zauberisch,
Pocht das Herz in trunk'ner Wonne,
Klingt das Liedel jung und frisch!

Küßt das Licht den jungen Morgen,
Fällt der Thau auf Blüt' und Blatt,
Traun, da mag ich's nimmer glauben,
Daß das Leben Schmerzen hat.

Lacht mir so die weite Erde
In des Lenzes Blumenflor,
Kommt mir Herzeleid und Trübsinn
Wie ein böses Märchen vor.

Tausend Blüten seh' ich sprossen,
Und da denk' ich so dabei,
Ob die Blume meines Glückes
Denn nicht auch zu finden sei.

Die auch muß so frei erblühen
Unter Sturm und Sonnenschein,
Darf kein mattes Topfgewächse,
Keine Treibhauspflanze sein.

Was doch so die Menschenseele
Wunderliche Träume hat,
Küßt das Licht den jungen Morgen,
Fällt der Thau auf Blüt' und Blatt.

aus: Baltische Dichtungen
herausgegeben von Freifrau von Staël-Holstein
geb. Freiin von Nolcken Riga 1896
Verlag von L. Hoerschelmann

Collection: 
1896

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