Mit Zaubermacht-Gewalten
Bestrickt sein Antlitz mich fürwahr:
Der Stirne ernste Falten
Und rings das silberweiße Haar;
Ich schau' mit sel'gem Zagen
Sein Auge: blickt es lieb und lind?
Doch scheint es gleich zu fragen:
"Was willst du, thöricht Kind?"
Er hat mich ganz gewonnen,
Der hohe, königliche Greis!
Die Augen, lichte Sonnen,
Sie glänzen hell, sie lodern heiß;
Es hat ihr zündend Feuer
Entflammet und versenget mich -
O Gott, wer liebt denn treuer,
Wer inniger, als ich?
Wenn oft mit Wohlgefallen
Sein Blick voll Liebe auf mir ruht -
Er weiß, er fühlt vor Allen,
Wie wohl das meinem Herzen thut!
Er lächelt dann bedächtig, -
Welch' Lächeln ach, um welchen Mund!
Und niedersinken möcht' ich
Und thun mein Lieben kund:
"O heiß mich mit dir gehen,
Als deine Magd - dein Weib - dein Kind!
Laß in dein Aug' mich sehen,
Und würd' ich auch vom Glanze blind!"
Doch eh' ich's noch gesprochen,
Mahnt streng sein Blick: Wohin? Halt ein!
Und mag mein Herz auch pochen,
Dann muß ich stille sein!
Ich darf von ihm nicht schwärmen,
Die Leute lächeln ja alsbald:
"Willst du um ihn dich härmen,
Du junges Blut, da er so alt?"
Und ob er grau von Haaren,
Ich lieb' ja dennoch ihn allein! -
Konnt' er in jungen Jahren
Denn auch noch schöner sein?!
aus: Das Baltische Dichterbuch
Eine Auswahl deutscher Dichtungen
aus den Baltischen Provinzen Rußlands
Hrsg. von Jeannot Emil Freiherrn von Grotthuß
Zweite durchgesehene und bearbeitete Auflage
Reval 1895