Kalypso

 
Mir abgewandt,
so steht er Tag für Tag,
die Augen spähend,
auf dem Wasser wohnend.

Das ist Odysseus nicht.
Nicht der Odysseus,
der unter meinen Küssen zögernd schmolz
aus der Erstarrung,
und der Planken Haft,
wähnend, daß alles nur ein Trug, ein Traum sei.
Nicht der Odysseus, der gerettete,
der lange noch in jeder meiner Locken
die schwarzen, schweren Wellen fühlte.
Und das Grauen.
Um endlich dann,
ungläubig, und beschenkt,
an meinem frohen Herzen
zu erwarmen.

Das ist ein fremder, kummervoller Mann,
der wie ein Meeresvogel,
landverschlagen,
im Sande mit gebrochnen Schwingen hockt,
den Duft, den Salzschaum,
und den Schrei der Meere
begierig schlürfend …
Seltsames Geschlecht,
das sich in seiner Seele
die bittren Leiden selbst gebiert
und davon zehrt.

Mir abgewandt,
so steht er Tag für Tag.
Das Herz geschwellt.
Zugkräftig eingebrannt
in jeder kleinsten Wasserschwalbe Flug.
Die Augen auf den weiten Wassern wohnend,
bis sie sich schmerzend an die mitleidlosen
Gestirne hängen.
Und der Tag versinkt.

Dann, finster, mit zerwühltem Angesicht,
Gram über Gram in den geliebten Zügen,
bringt ihn die Nacht,
doch mich beschenkt sie nicht.

Mir fällt die Spindel.
Mein Gesang verstummt.
Die Schatten der Unsichtbaren walten.
Aus ihren dunklen Netzen quillt
die rätselhafte Last geliebter Bilder.
Und wirft sich auf. Und springt an seine Brust.

Die Düfte, hingeschüttet im Gesträuche,
der Vögel Lockruf im Zitronenbaum,
der Rosenschauer sanftestes Gewölke,
ja, selbst, was allen Göttern köstlich wiegt:
Kalypsos goldgestickter Gürtel sinkt
auf Seidendaun und Purpurdecken hin -
wertloser, als ein frostgeschlagner Halm -
und macht vor diesen stummen Augen Halt.

Odysseus, geh!
Geh – sage ich, Odysseus - -
Das Mitgefühl,
des Herzens schönste Blume,
hinwachsend
über alle Himmel, Dir geschenkt
reckt sich empor.
Und heißt Dich gehn!
Du sollst nicht länger leiden.
Lebe wohl!
Die Arme der Erfüllung öffnen sich.
Schon jubelt der beseelte Wunsch empor.

Geh! Geh!

Zum erstenmal vermisse ich die Träne.
Nimm aller Sterne Licht dafür.
Leb wohl.

Die Dich mir zugewiegt,
seltsamer Traum der Welle,
entführ Dich wieder!

Es legten sich die zeitlichen Gewänder
zu lange schon um dieses Herz. Leb wohl.

Kalypso scheidet sich von Dir.
Leb wohl.

Collection: 
1922

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