Schiller

In einer großen Stadt, wo ich gewohnt,
In einem volk- und häuserreichen Viertel,
Sah ich aus meiner Kammer unterm Dach
In das Gewirr der Steine oft und lang.
Schier unabsehbar lagen vor mir da
Kamine, Mauern, Dächer und Mansarden,
Ein wirres Auf und Ab und Durcheinander,
Ein steinern Meer, im Wellenspiel erstarrt.
Und aus den Schlünden dieses Meeres drang
Des Alltags Raserei in Lust und Angst:
Des Hungers Seufzen und Gebrüll des Rausches,
Der Schrei der Gier, der Kindheit Morgenlachen,
Der Arbeit Hämmern und des Tanzes Spiel.

Und immer, immer, wenn ich Sinn und Seele
An diesem Brei von Dunst und Lärm ersättigt,
Schlich glücksgewiß und still mein Blick zur Seite,
Wo sich ein Wunder groß und ernst erhob.
Da, dicht umwühlt von Essen, Erkern, Giebeln,
Und ganz doch unberührt von ihrem Schwall,
Ein ewig strömender Gesang von Stein,
Stieg eines Domes Turm zu Himmelshöh’n.
In breiten Massen wuchtig aufgeschichtet,
Schwang er doch leicht sich auf ins reine Blau.
Es überschlug der Blick sich, der ihn maß,
Und sank nach innen, schauernden Entzückens;
Denn seine herrlich ragende Gewalt
Umfloß der Schönheit ruhiges Gewand.
Von Zeit zu Zeit erdröhnte dumpf erhallend
Der Glocken tiefer Ton – dann drang ein Zittern
Bis in der Häuser, in der Herzen Grund,
Und wohl durch manche Seele, manches Haus
Ging Wunsch und Hoffnung, groß und rein zu sein.
Und klang am Feierabend gar ein Lied
Vom Turm herab, dann quoll’s wie Rosenwolken
Durch allen Gassendunst, ein Duft von Frieden
Durchdrang den Lärm, und hoch an rauchgeschwärzten
Gemäuern hing ein stiller Abendglanz
Wie herbstlich rotes Weinlaub …

Aber auch
Wenn er geheimnisvoll und schweigend stand,
Wie ewige Gedanken überdenkend,
Stieg mancher Blick empor an seinen Zinnen,
Empor in eine ahnungsreiche Welt.

Ja, auch die nie durch seine Pforte schritten,
Die ihn nur ragen sah’n aus ferner Gasse –
Sie sah’n ihn mit Bewunderung, mit Andacht,
Ja ja, sie liebten ihn aus dunklem Drang
Und wandten gern zu ihm den müden Blick —

Denn daß er groß war, das war Trost und Glück.
Daß er aus Qual und Qualm und Last und Lärm
Erhaben sich und schönheitsmild erhob,
Das war Befreiung aus bedrängtem Leid.
Daß er aus allen Engen sich entriß,
Das war Erlösung.

Und die Zweifler selbst,
Die Hoffnungslosen schauten milden Blicks
Auf diesen Weiser nach dem bess’ren Land.

Schon mehr als hundert Jahre stand der Turm,
Und ragen wird er durch Jahrhunderte
In ferne Zukunft. Und aus Tür und Fenster
In Hütte und Palast wird manch ein Antlitz
Sich neigen und dies Mal der Hoffnung suchen,
Und manche Seele wird an ihm empor
In unsrer Sehnsucht Heimatland entschweben.

Collection: 
1907

More from Poet

  • (Die Geliebte spricht:)

    Ach, mit gepreßtem Herzen
    War ich aufs Lager gesunken;
    Ich hatte heimlich-verschwiegen
    Den Kelch des Leids getrunken.

    Ich wähnte das Glück verloren;
    In bangen Zweifelstunden...

  • Mit meinem Lieb durchstrich ich deutschen Wald,
    Und froher Rausch aus grünem Licht und Duft,
    Aus Windes-Orgelklang und Bergesluft
    Ergriff die freudeoffenen Herzen bald.
    O Kuß in eines Walds geheimstem Grund!
    Fern oben über...

  • Rings umschattet uns schweigendes Waldesgrün;
    Atmende Dämmrung hebt sich sacht zu den Wipfeln;
    Nur durch die Lichtung glänzt und glitzert
    Des Stromes rinnender Spiegel.
    Da faßt du mich lächelnd bei beiden Händen
    Und fragst mich,...

  • Du sollst mir nicht so scheu bewundernd,
    So staunend in die Augen sehn;
    Nicht soll mein Bild so übermächtig,
    So stolz vor deiner Seele stehn.

    Du sollst nicht wähnen, daß mein Denken
    Sich frei im reinen Lichte wiegt,...

  • Oft wenn am Fenster glüht die Lampe
    Und du mir winkst den Scheidegruß,
    Weilt unten noch im stillen Garten,
    Gebannt durch Zaubermacht, mein Fuß.

    Dann trifft mich noch aus deinen Augen
    Ein Blick so wundersam und tief,...