Das Gesicht der Wahrheit

Seit wenig Tagen geh’ ich fromm und froh
Durchs Treiben dieser Welt; denn eine Mär
Kam mir von irgendwo und irgendwann,
Die mir das Herz mit jungem Glauben füllt. –

Gefangen hatten ihn die Häscher nun,
Den Herben, Wilden, Stolzen, dem der Spott
Wie ätzend Gift vom Munde floß – doch war’s
Ein heilsam Gift – dem die Begeisterung,
Wie Donnerflammen aus dem Krater, prasselnd
Von heißer Lippe sprang. Doch ging er leicht
Und stolz in seinen Fesseln; denn ihn trug
Geheime göttliche Allgegenwart.
Allgegenwärtig fühlt’ er seinen Gott,
Wo er auch ging und stand, den neuen Gott!
Und so vermaß er sich verwegner Hoffnung:
Auch seine Richter müsse ja berühren
Die Nähe dieses Gottes und die Kraft
Und Reinheit seines Atems.
                         Denn er war
Ein Mann an Stolz und Trotz, ein Kind an Hoffnung.

Die Richter aber thronten rings auf Stühlen
Von Eisen, und die Stühle hießen Ordnung
Und Religion und Sitte und Gewohnheit.
In diesen Stühlen ruhten breit und fest
Die Fundamente des gemeinen Wohles.
Wenn aber vor der Glut der neuen Lehre
Die wackern Stühle schmolzen, so gerieten
Die Fundamente des gemeinen Wohles
In glühende Bedrängnis. Und so bliesen
Die Richter denn mit hoheitsvollen Backen
Den Hauch der prallen Sonne sich vom Leibe
Und saßen tot auf ihren toten Stühlen.
Und sprachen dann: „Er soll am Pranger stehen
Auf off’nem Markt, vor allem Volk, nachdem man
Zuvor die Ohren ihm vom Kopf geschnitten.“
Auf den Tribünen hatte rings das Volk
Gelauscht, und als der Richter Weisheit nun
In jenem Spruch sich froh und stolz befestigt,
Zerstreute schwatzend, lachend sich die Menge,
In Ehr’ und Zucht des Gaudiums gewärtig,
Das ihr der heil’ge Sonntag bringen werde. –

Hoch aus dem surrenden und plappernden
Und gurgelnden und schnatternden Gebrodel
Der Menge, die den weiten Markt erfüllte,
Stieg schwarz und grausenhaft der Prangerkasten,
Der den Verdammten noch dem Blick verbarg,
Und schwärzer gähnte drin das Loch, in dem
Des armen Sünders Kopf erscheinen sollte.

Mit faulen Äpfeln, Eiern und noch manchem
In stiller Emsigkeit gehäuftem Unrat
Höchst sorgsam ausgerüstet, harrt die Menge,
Harrt stundenlang. Denn neben ihrem Zorn,
Dem Löwen, ruht das Eselein Geduld.
Auf hoher Balustrade leuchten Rat
Und Älteste der Stadt, des schönen Wetters
Und der im tiefsten Herzen sanft empfund’nen
Weltordnung froh –
                         den armen Sünder packte
Ein wilder Schauder vor dem nahen Greuel.
An beide Ohren preßt er bang die Hände –
Nah ist hier keiner, der ihn retten möchte.
Denn jeder haßt ihn – könnte wohl ihn lieben,
Doch haßt ihn. Und ihm ist, als trennt’ ihn doch
Von diesen allen nur ein dünner Vorhang –
Er klagt sich an, daß er das rechte Wort,
Das eine, kurze, klare Wort nicht fand,
Das alle, alle überzeugen mußte –
Ja, wenn er jetzt – ! Allein nun war’s zu spät.

Und tief im Kopfe hub ein Singen an
Von lauen Jugendtagen. Warum blieb er
Nicht still am warmen Herde seiner Heimat?
Und sanft und fest in seiner Mutter Schoß
Fühlt er sein Haupt gedrückt – und auf der Wange
Fühlt’ er die rauhe, warme, gute Hand:
Mein Junge bist du – mein – mein guter Junge ––
Der Henker winkt. –
                         Die Augen fest geschlossen,
Des Hagels von Geschossen schon gewärtig,
Zwängt er den Kopf durchs enge Loch des Prangers;
Im Hirne braust und wirbelt wilde Scham ––

Da stößt ein süßer Schreck ihm tief ins Herz,
Und seliges Erschauern rinnt ihm kalt
Vom Wirbel bis zur Zeh’. Und fühlt sogleich,
Daß alle, alle, die dort unten stehen,
Derselbe große, stille Strom durchrinnt.

Und schlägt die Augen auf – und sieht das Volk,
Das hängt mit einem Blick an seinem Antlitz
Und starrt hinauf und schweigt. Und starrt – und schweigt.

Und sieht um seinen Mund, den Blut benetzt,
Ein zuckend Lächeln, sieht die dunklen Haare
In feuchten Strähnen an den Wangen kleben,
Und aus den Haaren, an den Wangen nieder
Rinnt Blut, rinnt Blut – so stumm und so geschäftig,
Das warme Blut – und hilflos starrt der Kopf
Hervor aus schwarzer Wand, und hilflos irren
Die Blicke hin und her: Wo seid ihr, Hände?
Was helft ihr nicht? O wischtet ihr mir nur
Das Blut vom Mund! – Und klagend glänzt das Auge.

Und vor dem hilflos armen Kopf erbleicht
Der Rat der Stadt, und ganz geheim ins Ohr
Schreit gellend, jauchzend ihm die Totenstille …

Da schwirrt vom Markt ein Lerchenstimmlein auf,
Und sieh, ein Kind, ein Mägdlein, steigt behende
Zum Schandgerüst empor und trägt ein Kränzlein
Von Löwenzahn, den es am Rain gepflückt.
Und streckt den Kranz empor und langt und langt
Und kann es nicht erreichen. Und ein Greis
Folgt ihm geschäftig, hebt das Kind empor,
Und in die nassen, wirren Haare drückt es
Mit leiser Hand den weichen, goldnen Kranz. ––

Seit wenig Tagen geh ich fromm und froh
Durchs Treiben dieser Welt; denn eine Mär
Kam mir von irgendwo und irgendwann,
Die mir das Herz mit jungem Glauben füllt. ––

Collection: 
1907

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