Gebet

Liebe, die in Thrake's Hainen
Einst gehorcht des Sängers Ruf;
Liebe, die aus todten Steinen
Andachtsvolle Hörer schuf;
Die Eurydiken dem Gatten
Selbst aus Hades' finstern Schatten
Wieder an das Licht beschwor;
Die, ein Strahl von Himmelssonnen,
Einmal zu den höchsten Wonnen
Jeden Sterblichen erkor -
Schaumentstiegne Göttin, sprich,
Liebe, warum fliehst du mich?

Zog ich nicht auf deinen Bahnen,
Seit du mich ins Sein geweckt,
Seit ein kindlich frommes Ahnen
Deine Flammen mir entdeckt?
Hab' ich nicht mit Lied und Leben
Dir mich ganz dahingegeben,
Opfernd Freude, Glück und Ruh'?
Willst du nun mit tausend Qualen
Mir die heil'ge Schuld bezahlen,
Winkst mir nie Gewährung zu? -
Ende, Göttin, diese Pein,
Kehr, o Liebe, zu mir ein!

Komm, o komm! du hast geleitet
Mich durch Prüfung, Angst und Schmerz;
Sieh, als Tempel steht bereitet
Dir ein gluthgeläutert Herz!
Deinem Wolkenthron entsteige,
Himmelskönigin, und neige
Lächelnd dich zu mir herab;
Komm und lös' in Wonnethränen,
Sel'ge, all dies stumme Sehnen,
Dem kein Traum Erfüllung gab!
Segenspendend, mild und rein,
Kehr, o Liebe, zu mir ein!

Theil', o Göttin, all mein Denken,
Um die Welt mein herbes Leid!
Wolle du die Pfeile lenken
In der Menschheit wildem Streit!
Wo sich Feinde tödlich hassen,
Hilf das Banner mir erfassen,
Welches jeden Kampf versöhnt;
Sei in all dem Nachtgetriebe
Mir die Sonne du, o Liebe,
Die den Zukunftstag verschönt!
Deinem Werke mich zu weihn,
Kehr, o Liebe, zu mir ein!

Oder willst du, dass in Gluthen
Mich zu dir mein Schicksal rafft?
O, so lehre mich die Fluthen
Wild entbrannter Leidenschaft!
Stürmisch lass in tausend Flammen
Lodern Herz und Herz zusammen,
In ein Meer von Lust getaucht!
Einmal komm, und nimmer sorgen
Wird die Seele, ob sie morgen
Schon im Feuertod verhaucht!
Mag dein Strahl Vernichtung sein,
Kehr, o Liebe, zu mir ein!

Komm, o komm! Als Morgenröthe
Stiegst du nicht zu mir herab,
Die mir eine glanzerhöhte,
Lichtverklärte Jugend gab.
Nun im vollen Tag des Lebens
Rief und ruf' ich dich vergebens,
Aus des Herzens tiefster Noth;
Flehnde Arme sieh mich heben -
Willst du endlich mich umschweben
Als ein reiches Abendroth? -
Weltgeblückerin, o sprich,
Liebe! wann erhörst du mich?

Collection: 
1870

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