"Sing mich zum schlafen, früher Wind,
Der die Welt mit Flügeln umbreitet,
Da die Nacht noch leise in Thränen verrinnt,
Und Orion am Himmel schreitet.
Es ist noch sternenblitzende Nacht,
Und Alle, und Alle schlafen,
Mich aber hat Sehnsucht ruhlos gemacht,
Und Wonnen, die heimlich mich trafen ...
Wenn du die Wälder da draußen im Tau
Trocknest mit deinem Wehen,
Die träumenden Felder, die Knospenau,
Die in quellenden Thränen stehen,
Was gehst du meiner Kammer vorbei,
Vorüber den Herzen, die weinen?
Du früher, barmherziger Wind des Mai,
Vorüber der ruhelos Einen?"
Da lacht er recht wild: "Die Nachtigall,
Sie mag zur Ruhe dich singen;
Die redet mit ganz absondrem Schall,
Wenn in Knospen stehn die Syringen -
"Ich bin die Lust, ich durchfliege die Welt,
Mein Reich ist Lachen und Scherzen,
Mein süßer Ruf, der das All durchgellt,
Kennt keinen Accord der Schmerzen."
Und er flog weitab, und weckte, was schlief,
Und lachte durch träumende Wälder;
Ich aber ins glimmende Dämmer rief,
Und wie Schauer durchrann es die Felder:
"Ich will nicht hören die Nachtigall,
Denn sie hat mir einst gesungen,
Als nächtens dir und mir ein All
Von Glück die Seele bezwungen.
Es ist noch sternenblitzende Nacht,
Und Alle, und Alle schlafen -
Mich aber hat Sehnsucht ruhlos gemacht,
Und Wonnen, die heimlich mich trafen ..."
aus: Offenbarungen. Dichtungen von Alberta von Puttkamer
Stuttgart 1894