Der Kuß

Wie warmer Frühlingssturm
Ueber Bergland wandelt
Und Blumen
Aus weichem Boden emporküßt:
Also weckt mein Kuß
Dein Empfinden
Aus dunklem Herzensboden empor,
Und es wächst mir entgegen.
Der Kuß
Ist die Sonnennähe der Gottheit,
Und seine heilige Gluth
Schmilzt die eisigen Hüllen
Der Lebensräthsel ...

Auf meiner Kindheit
Lag sein flammendes Zeichen,
Und er weckte den Glauben
An Schönheit und Gott!
- Die lenzfrühen Tage der Jugend
Berührte der segnende Kuß der Gottheit,
Und er entwirkte die Liebe;
Die Liebe, die alle Tiefen und Höhen umfaßte,
Die schattenlos strahlte,
Und junge Seelen
In gottnahem Schwung
Den Erdenfesseln entrückte!
Die übermächtige,
Die mir den Einzigen in die Arme gelegt,
Dem meine Seele
Offen und eigen gewesen
In aller Fülle
Von Leben und Wollen und Sehnen.

Wenn die Kunst mir
Ihre letzten Wunder weist;
Wenn ich, zu ihrer Ferne zu dringen,
Kühnen Flug in's Sonnennahe gewagt,
Und mit glücklichen Schwingen,
Feuerversengt, doch nimmer ermüdend,
Das Schöne erfasse;
Wenn die Hüllen
Von jenen Bildern entgleiten,
Nach deren trunkener Schönheit
Ich jugendlang suchte,
Dann ist es, als ob geisterleise
Ein Hauch mich streifte,
Und ich glaube in glückvollem Wahn,
Es sei die Gottheit,
Die mir den weihenden Kuß
Auf das Haupt drückt - - - -

Oft, wenn ich eingeschlafen im Wald,
Das Haidekraut funkelt im Thau
Und die Hagrosen duften,
Und durch die röthlichknospenden Büsche,
Die goldenschimmernden Blättergehänge
Streifen leise die Abendlichter;

Oder wenn Morgens
Im spätherbstduftigen Garten
Die Nebel im Sonnenleuchten zerrinnen
Und herber Duft von reifen Früchten
Auf den Luftwellen herschwimmt;

Oder wenn in Sommergewittern
Rings Land und Wald bebt,
Und nach Blitzesgeleucht
Und Donnerbrausen
Die Erde dampft,
Vom Regen gesättigt;

Wenn Vogeljubel durch Lenzblüthen irrt,
Oder wenn klagende Töne
Nachts im Walde erwachen;

Wenn Vollmondglänzen,
Gleichwie ein überfluthendes Meer
Die Nachtwelt verklärt;

Oder die Sonne, letztes Sternlicht verlöschend,
Am Morgenhimmel aufwächst,
Und über den Bergwald
Und stolzzackige Klüfte
Weiterschreitet mit goldenem Fuß:
Dann ist's mir, als ob ein göttlicher Kuß
Zauberhaft rühre mein Haupt und Herz ...

Wo mir auf Erden die Gottheit begegnet',
Im Leben, in Kunst und Natur,
Fühlt' ich die ahnungsvolle Nähe
Wie einen Kuß;
Und bei dem zarten, unirdisch-feinen Berühren
Fielen die Bande des Niedern,
Zerrissen die letzten Schleier,
Welche der Sehnsucht
Das Glück verhüllten,
Und es berührten mich
Erde und Himmel
Mit gleichen
Heiligen Schauern ...

aus: Dichtungen von Alberta von Puttkamer
Leipzig 1885

Collection: 
1885

More from Poet

  • Es giebt so stille Stunden, wo das Leid,
    Gleichwie das Glück in uns zu schlafen scheinen.
    Wir sind vielleicht zu müde, um zu weinen,
    Zu müde auch vielleicht zu Seligkeit.

    Gleichwie im Schlaf zu hoher Mittagszeit
    Die Waldesfee,...

  • Du weißt, daß du die Sonne bist,
    Die meine Seele bringt zum Blühen;
    Doch birgst du hinter Lenzgewölk,
    In Trotz und Spiel, dein Strahlenglühen.

    Nun steht mein armes Herz weitab,
    Verschmachtend in dem Wolkenschatten,
    ...

  • Die Blume, die ich dir im Garten brach,
    Sie hat im wilden Sturm der Nacht gestanden,
    Und ward zur Morgenzeit in Thränen wach,
    Die erst im heißen Mittaglichte schwanden.

    Sie zittert nur - noch ist ihr Duft nicht todt -
    So leg'...

  • Im Mondesdufte schwimmt rings das Thal -
    Die Wasser rauschen und rinnen;
    Die Bergesfirnen leuchten so fahl -
    Wir wandern schweigend von hinnen.

    Da hinter uns liegt ein helles Haus,
    Drin feiern sie Hochzeit mit Singen -...

  • Sie kamen von Nord und Süden
    Und hatten sich nie gekannt -
    Doch bald umfing die Beiden
    Ein süßes, enges Band.

    Sie haben sich nicht in Worten
    Ihr junges Leiden geklagt;
    In Liedern nur und in Tönen
    Da...