Morgengefühl

Es bebt mein Herz, da leis vom Himmel funkelt
Das junge Morgenlicht, das hell umglüht
Die Bergeshöh'n und in die Kluft versprüht
Den sel'gen Strahl, wo noch der Nebel dunkelt.

Es bebt mein Herz bei diesem Flammensegen,
Der um ein Weltall seine Glorien flicht,
Die schöne Glut in jeder Welle bricht,
Millionen Leben tränkt im Strahlenregen! -

Es bebt mein Herz, da junge Kräfte steigen
Urewig neu stets aus dem Born der Zeit,
Ursach' und Wirkung durch die Ewigkeit,
Draus sich gestaltet der Geschichte Reigen.

Es bebt mein Herz und zieht auf leisen Schwingen
In Näh' und Fern' - hier wallt ein Trauerflor,
Dort singt zum Brautzug wohl ein Jubelchor,
Mißton und Wohllaut ineinanderklingen! -

Es bebt mein Herz bei ahnungsvollem Lauschen,
Als spräch geheimnisvoll der Weltengeist,
Der die verzagte Frage schweigen heißt,
Die duftgetränkten Morgenlüfte rauschen. -

Es bebt mein Herz, will zum Gebet sich heben
Umtaut von Thränen, doch von Glut umloht,
Drängt neubeglückt empor aus Erdennot,
Im Göttertraum sein inn'res volles Leben! -

aus: Deutsche Dichterin[n]en und Schriftstelerin[n]en
in Wort und Bild
Herausgegeben von Heinrich Groß
III. Band Berlin 1885

Collection: 
1888

More from Poet

  • O einzige, traute, holdselige Zeit,
    Da fröhlichen Sinnes die Welt ich umfieng,
    Mein Herze die Gaben des Lenzes empfieng:
    Das Glühen und Blühen voll Herrlichkeit
    Im wonnigen Lebensmai! -

    Wie lachte der Himmel in Huld...

  • Es bebt mein Herz, da leis vom Himmel funkelt
    Das junge Morgenlicht, das hell umglüht
    Die Bergeshöh'n und in die Kluft versprüht
    Den sel'gen Strahl, wo noch der Nebel dunkelt.

    Es bebt mein Herz bei diesem Flammensegen,...

  • Umwebt vom Zauber duft'ger Waldesnacht
    Weil' ich geschützt vor glüher Tagespracht;
    Von grünem Laubdach traulich überspannt,
    Ist in ein Friedensreich der Sinn gebannt.
    Als ob geheimer Geist ihr Spiel belebt,
    So Licht...

  • Durch die off'nen Fenster fluten
    Alte, liebe Frühlingslüfte,
    Lieblich weh'n aus Blumenherzen
    Ach, wie einst, die linden Düfte.

    Mondenlicht umgleitet leise
    Wundersam die stillen Auen,
    Und vom nahen Hain die Lieder...

  • Ich sah dich nur einmal wieder,
    Nach langen Zeiten einmal, -
    Schaut' tief versteckt im Dunkel
    Des schönsten Auges Strahl.

    Und sah die dunkeln Locken,
    Das stolze schöne Gesicht -
    Mein Herz, das bebte, das weinte,...