Das Vöglein

Ein Vöglein im Kerker -
Sein Jubel erklang,
Wenn draußen verstummet
Der Brüder Gesang,
Wenn spottend der Winter
Die Rose gekühlt,
Den ewigen Frühling
Im Busen es fühlt;
Es singet, und singet der Liebe!

Doch wenn von dem Baume
Die Flocken verweht,
Und Nacht ihn mit Silber
Der Blüthen besät,
Dann hebt sich die Sehnsucht
In Vögeleins Brust,
Es regt sich zum Fluge
Die glühende Lust,
Es klaget und klaget der Liebe.

Im heißen Verlangen
Entbrennet die Kraft,
Es breitet die Schwingen -
Doch eng ist die Haft.
Es flattert und flattert
Sich müde und matt,
Und wird doch nicht müde,
Und wird doch nicht satt,
Da schweigt es, und schweiget der Liebe.

Die Liebe erkennet
Des Vögeleins Treu',
Sie öffnet den Kerker,
Geh', du bist frei! -
Das Vögelein stehet
An offener Thür,
Und schauet ins Freie -
Die Liebe bleibt hier?
So fragt es, und seufzet der Liebe.

Es dehnet die Flügel
Noch einmal und spricht:
Ich mag ohne Liebe
Die Freiheit nicht!
Durch himmlische Weiten
Bewegt sich der Klang,
Und fern von der Liebe
Verstummt mein Gesang,
Ich singe allein nur der Liebe!

Und wenn einst das Vöglein
Zum Tode müd'
Der Liebe gehauchet
Das Schwanenlied,
Wenn ewige Freiheit
Ihm löset das Wort,
Es schaut nach der Liebe
Und will nicht fort -
Kann Liebe scheiden von Liebe?

Ade, treues Vöglein! -
Es lebte und sang
der Liebe im reinen
Allmächtigen Drang;
Und mußt' es auch sterben,
Es schwinget sich neu
Hinauf zu des Himmels
Unendlichem Mai -
Und singet nun ewig der Liebe!

Collection: 
1844

More from Poet

  • Du sagst: auf theuren Lippen wiegt
    Sich Deines Lebens Lust,
    Wirst, wenn sich Mund dem Munde fügt,
    Dir erst des Heils bewußt.

    Nicht so entscheidet mein Gefühl,
    Ob's auch von Liebe schwer;
    Ein Kuß gilt mir unendlich...

  • Streife über meine Saiten
    Feuchter Hauch der stillen Nacht,
    Laß die Töne schwellend gleiten,
    Wo der Liebe Sehnen wacht;
    Hebe leicht wie Blüthenflocken
    Mir die losgebund'nen Locken,
    Daß sich rein das sanfte Licht...

  • Liebster ich sterbe!
    'S ist mir so bang und weh -
    Saget ihr Augen,
    Wo ich euch wiederseh'?
    Blüthen und Freuden,
    Küsse und Leiden,
    Alles will scheiden?
    Nun denn Ade!

    Muß ich hinüber,...

  • In Lieb' und Dank sich selig auszudehnen
    Ist meines Herzens heiligster Beruf!
    Ob Himmelslust, ob ungestilltes Sehnen
    Den feuchten Strahl im Seelenspiegel schuf,
    Er thauet kühlend auf die heiße Brust,
    Die der Bedeutung Tiefe sich...

  • Was klopft an die Brust?
    Ist's etwa die Lust?
    Herein, nur herein!
    Doch kann's ja nicht sein -
    Längst wohnte sie dort
    Am heimlichen Ort.

    Was klopft an dem Herzen?
    Sind's etwa die Schmerzen?
    ...