Wenn im holden grünen Mai
Knospen sich erschließen,
Wollen alle Blüten frei
Süßen Duft ergießen.
Naht ein Nachtigallenheer,
Frühlingslust zu singen,
Darf doch nicht der Winter mehr
Kalte Schauer bringen.
Rein will sich der Sonne Macht
Überall bewähren,
Will des Frühlings heil'ge Pracht
Ungestört verklären.
Liebchen, deiner Augen Strahl
Hat mein Herz gewonnen,
Und es blüht wie Berg und Thal
Wenn der Mai gekommen.
Möchte dir bei Tag und Nacht
Tausend Grüße sagen,
Wie im Lenze liebentfacht
Nachtigallen klagen.
Wie die Rose süßen Duft
Auf der Flur verbreitet,
Wenn die linde Maienluft
Durch die Blüten gleitet.
O so laß mich an dem Licht
Deiner Augen sonnen,
Weicht doch auch der Frühling nicht,
Der einmal begonnen!
Und du gleichst der Frühlingspracht,
Wie mein Herz der Blüte,
Die, von warmer Sommernacht
Aufgeweckt, erglühte.
aus: Heidenröslein
Lieder von Liebeslust und Frühlingsfreud'
Gesammelt von Dr. Karl Zettel
Zweite vermehrte Auflage
Stuttgart 1887