Um Mitternacht wach' ich empor -
Mir ist, ich höre ängstig rufen -
Es rüttelt wer an meinem Thor
Und hastet heimlich auf den Stufen.
Es setzt sich mir zu Häupten hin
In wunderlichen Schleppgewändern
Von geisterhaftem Graugespinn;
Die Stirn umschmiegt von hellen Bändern.
Es legt mir schwer die Hand aufs Herz -
Gleich fühl' ich's wie ein ätzend Brennen.
"Weißt du's nicht mehr? ich bin der Schmerz,
Den sie der Liebe Bruder nennen."
"Du hast mich jugendlang gekannt,
Ich liebte jede deiner Thränen;
Es wuchs um uns ein enges Band -
Doch du begannst dich aufzulehnen;
Du hobst dich aus den Fesseln fort
Und stießest mich von deinem Heerde;
Du gabest mir das Scheidewort
Im Lenz; es duftete die Erde ...
Des Lebens helles Jugendroth
Entglomm noch rings an allen Wegen,
Und ich war trüb und grau wie Tod -
Wie mocht'st du mich da länger hegen?"
Der Schmerz verstummte. "Sag mir an,"
Rief ich, "was kommst du heute wieder,
Da ich dir kämpfend, längst entrann?
Was bindest du mir Geist und Glieder?
Mir tönt ein fremder Klang ins Ohr,
Als riefen mich die Jugendstunden ...
Schickt Einer dich, den ich verlor,
Und den ich niemals mehr gefunden?"
Da nickt der Schmerz und hebt sich sacht
Und küßt mein Aug' und schleicht von hinnen;
Es geht ein Seufzen durch die Nacht
Und warme Thränen fühl' ich rinnen ...
aus: Dichtungen von Alberta von Puttkamer
Leipzig 1885