Das Hohelied

Und ich gedenke der Stunde,
die mich mit weichen Händen
wegnahm aus dem Kreise der Kinder
und mich hinführte an das Ufer
des Sees und sprach: Hörst du?
Und ich sagte: Ja, ich höre;
Glockentöne, Glockenstimmen.
Und sie sprach: Vom Dorfe drüben ...
Und ich sagte: Nein, nein!
weiter, viel weiter,
ich weiss nicht, woher. -
Und plötzlich war ich entrückt
in ein dunkles Land
und ich fürchtete mich,
und eine Stimme rief:
Es werde Licht! (S. 11)

Im Anfang war der hohe Weltenwille.
Ihm war die wunderbarste Schönheit eigen:
Das ungebrochne, rätselsüsse Schweigen.
Er fuhr dahin im Schöpferkleid der Stille.

Und seiner Werke unermessne Fülle,
sie schwingt in Ruh den gottgewalt'gen Reigen.
Das ist ein Schweben, Fluten und ein Neigen
vom Innersten bis an die blaue Hülle.

Ein Hauch von dir weht tief in meinem Innern
und scheint sich manchmal deiner zu erinnern,
wenn stumm die Nacht aus braunen Gründen stösst.

Dann fühl ich, wie der Lärm des Tages endet;
und einen Augenblick bin ich vollendet
und tief in ew'ges Schweigen aufgelöst.

In dieser Frühe ist kein Stillestehn:
In allen Wesen unsichtbares Weben,
und ist ein Formen unbewusster Leben,
die leise um Geborenwerden flehn.

Um alle Bäume haucht ein seltsam Wehn.
Es ist, als hörte man das leise Streben
der Knospen, die sich wie aus Angeln heben,
und Hüllen drohen manchmal aufzugehn,

so reiften sie entgegen einer Stunde,
und eine Frage hängt an ihrem Munde:
Wann nahet er, der uns erlösen mag?

Und Äste sind wie Arme ausgebreitet
und wie zu einem Feste vorbereitet
und harren alle auf den grossen Tag.

In heissen Wehen liegt die junge Erde -
Wie die Geschöpfe ihre Schmerzen zwingen!
Ein unterdrücktes Schreien um Vollbringen
spricht aus der Bäume zitternder Gebärde.

Da schrillt's durch weite Stillen hin: "Es werde!"
Und plötzlich regen Wälder ihre Schwingen.
In Licht und Lust gefüllte Knospen springen!
Taufrische Gräser brechen aus der Erde

und sind schon voll von neugeformten Stimmen,
die tönend über offnen Blüten schwimmen,
von denen jede eine Sehnsucht spürt.

Und alle sind den Winden hingegeben
und wissen kaum von ihrem jungen Leben
und sind wie Kinder, rein und unberührt.

Der wilde Taumel lässt mich nicht mehr stehen:
Die Erde lockt mich mächtig zu ihr nieder.
Sie fasst und kettet meine jungen Glieder
und zwingt mich, still zu lauschen ihrem Flehen:

"Du Menschenkind! Du darfst nicht von mir gehen!
O höre nur, wie unsre tollen Lieder
lustmächtig in die braunen Schollen nieder
und aufwärts in die Lüfte wild verwehen.

Sieh meine Blumen da, die Lenzgeschöpfe!
Wie strecken sie die gelben Blütenköpfe
hervor aus ihrem zarten Düftehaus.

Und hör: Dies Läuten da an allen Enden -
Ich glaube gar, die losen Schelme senden
den Blütenstaub schon auf die Brautfahrt aus!"

Die Wälderorgeln brausen durch die Tiefen
mit wuchtig schweren, sprachgewalt'gen Tönen.
Tief in den Wurzeln widerhallt das Dröhnen,
wo starrgefesselt ihre Stimmen schliefen.

Es ist, als ob die Bäche schneller liefen.
Urlaute aus dem grünen Schachte tönen,
bald Jubelrufe und bald dumpfes Stöhnen,
als ob Gefangne um Erlösung riefen.

Sie nahen meiner Seele offnen Toren.
Wie sie mein Innerstes sturmwild durchbohren,
und brausend durch die Labyrinthe ziehn!

Zur tollen Orgel ist mein Herz geworden
und löst sich auf in zitternden Akkorden
und wilde, gotterfüllte Melodien.

Die Landschaft wechselt plötzlich ihre Bilder:
versunken sind die Hügelregionen,
und vor mir starren weisse Gletscherzonen.
Eng wird der Pfad und steil und immer wilder.

Und Gipfel drohn wie hochgehaltne Schilder,
dahinter unsichtbare Riesen thronen.
In diesen Einsamkeiten möcht ich wohnen:
Wie schlürft mein Aug die aufgetürmten Bilder.

Den Schritt will ich in eure Reiche lenken
und mich in eure Seele still versenken,
ihr Zeugen unfassbarer Schöpferkraft,

geformt, gebildet von allmächt'gen Händen,
die euch unmerklich bauen und vollenden
in tiefer Ruh und ohne Leidenschaft.

Eintret ich über blum'ge Wiesenschwellen
und halte still auf meinem Morgengange.
Das Tal ist voll von jauchzendem Gesange
und Blumen leuchten auf an allen Stellen.

Die sonst so kühlen, träumerischen Quellen
berauschen sich an ihrem eignen Klange,
und oben taumeln überm Felsenhange
lusttrunkne Vögel über Wasserfällen.

Und Zittern rieselt durch die Blütenköpfe,
in tausend Sprachen reden die Geschöpfe -
kein Wesen mehr das andere versteht:

Es fuhr der Geist auf unsichtbarer Schwinge
allmächtig schaffend in die kleinsten Dinge,
und jedes Wesen ist heut ein Prophet.

Nun reden rings gehoben alle Dinge:
Der Steine Stammeln donnert gell zu Tale.
Zerbrochen liegt des Schweigens weisse Schale,
ein jeder Tropfen klingt gleich einer Klinge.

Es rollt der Wind mit flügelstarker Schwinge
die Melodieen hin im Felsensaale.
Urwort geworden sind mit Einem Male
die Wesen rings im blauumzirkten Ringe.

Wie war gewaltig schon das eh'rne Schweigen.
Wie überwältigt mich der grosse Reigen!
Die Schönheit lebt! Sie atmet, glüht und loht!

Ein Tönen steigt herauf an jedem Hange
und schwillt empor zu mächtigem Gesange:
Durch seine Stillen wandelt jubelnd Gott.

In eines Felsengürtels kühlem Becken,
darin des Schweigens weisse Schleier weben,
lieg ich, der wilden Einsamkeit ergeben,
bewacht von ihren trotzig hohen Recken.

Kein Menschenwort vermag sie aufzuwecken.
Auf ihrem Antlitz regt sich kaum das Leben.
Das ist ein langsam leises Weiterweben.
Die schweren Häupter sich zum Himmel strecken.

Ihr Prediger der ungeheuren Stille!
Vor eurem Schweigen beugt sich tief mein Wille,
ich opfre stumm an eurem Hochaltar.

Ihr habt mich schon erhört. Ich hab genossen
vom Trank der Stille, den ihr ausgegossen.
Nun träumt der Friede tief in meinem Haar.

Du Gipfel überm stillen Felsensaale,
du ziehst mich an mit deinem tiefen Schweigen.
Wie viel von deinem Wesen ist mir eigen!
Aus deinem Antlitz sprechen Wundenmale.

Zu deinen Füssen knieen Tale,
und Winde kühl um deine Hüften steigen,
und Menschen sich vor deiner Grösse neigen,
wenn du aufleuchtest stumm im Morgenstrahle.

Der du so hoch ob allem Wimmern wohnest,
in Rieseneinsamkeit und Stille thronest,
was schaust du sehnsuchtsvoll nach jedem Stern?

Was strebst du fort aus deiner starren Hülle?
Genügt dir nicht mehr deine eigne Fülle?
Suchst du dort oben einen starken Herrn?

Auf meinem Lager lieg ich still und träume
und schaue in des Himmels dunkle Strassen.
Zur Ruh gegangen ist der Lärm der Gassen,
zu Dunst zerflossen sind die Wolkenschäume.

Nur Eine Wolke wandelt durch die Bäume.
Sie folgte mir seit Stunden schon gelassen.
Sie will mich rufen und sie will mich fassen,
schwebt höher schon, dass sie mein Haupt umsäume.

Die Augen schliess ich fest und geisterleise -
Ich fühle sie in meinem Innern schweben:
Sie kam herein durch unsichtbare Gleise.

Sie will urtief in meinem Innern leben.
Ins Land des Schlummers macht auch sie die Reise:
Das ist, sie will mir ihre Liebe geben.

Und wenn des Abends übermächt'ge Fülle
mich überfliesst in dumpfer Einsamkeit
und mich erfüllt mit tiefer Trunkenheit
und heller leuchten lässt der Erde Hülle,

und wenn sein unbeugsamer Schöpferwille
Urworte in die trunknen Dinge schreit,
dass purpurrot die ganze Ewigkeit
hervorrollt aus dem Traumgewand der Stille,

dann starrt mein Geist in wachsender Erregung,
in die enthüllte, nahende Bewegung
und tauchet in das aufgetane Licht

und muss sich schaudernd überfluten lassen
und will das Meer versprühter Strahlen fassen
und atmet schwer und ringt und kann es nicht.

O wäre doch der schwere Schritt getan!
Erinnrungsmächtig auf des Abends Strassen
ziehn stumm einher die schweren Wolkenmassen
und das Gebirg, das ich nicht meiden kann.

Und ganze Wälder folgen meiner Bahn
und öffnen mir die überwölbten Gassen
und wollen mich mit ihrer Stille fassen
und zünden ihre sel'gen Lichter an.

Wie habt ihr euer stilles, schönes Lieben
in meine Kinderseele eingeschrieben,
dieweil ich lag auf menschenleerer Flur.

Noch einmal komm und gib mir dein Geleite,
bevor ich diesen dunkeln Raum durchschreite.
Nun fühl ich erst, was du mir warst, Natur!

Die Nacht schlägt auf ihr dunkelblaues Zelt,
und Sterne hangen hoch in ihren Netzen
und schweben dort nach ewigen Gesetzen
hinstarrend in die unermessne Welt,

die sich selber fest in Händen hält
und deren Glieder manchmal sich verletzen
bei eines Sterns starrem Sich-Widersetzen,
der stumm durch ungeheure Tiefen fällt.

Dann leuchtet's plötzlich auf im dunkeln Raume,
und eine Welt erwacht aus ihrem Traume
und starrt entsetzt auf seinen jähen Fall.

Doch ihre Hände fassen ihn im Kreise
und lenken ihn in neue, sichre Gleise,
und ruhig kreist das ew'ge All.

Und manchmal bin ich wie von Gott verlassen:
In meinem Innern gähnet eine Leere.
Ich fühle keine Härte, keine Schwere,
und nichts mehr sind mir Wälder, Flüsse, Strassen.

Und keine Hand will mehr die meine fassen. -
Mich lockt nicht mehr das Ziehn der Wolkenheere
und nicht der Nachtgesang schlafloser Meere -
Die Liebe tot - und ausgelöscht das Hassen!

Ich bin gleich einem Stern am Himmelsbogen,
der irgendwo den weiten Raum betreten
und der nun reglos starret in den Tag,

gleichmässig von Gestirnen angezogen,
von denen keins ihn ganz vermag zu ketten
und die er anzuziehen nicht vermag.

Collection: 
1919

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Und ich gedenke der Stunde,
die mich mit weichen Händen
wegnahm aus dem Kreise der Kinder
und mich hinführte an das Ufer
des Sees und sprach: Hörst du?
Und ich sagte: Ja, ich höre;
Glockentöne, Glockenstimmen....

IV.

IV.
. . . .  War dies das Paradies?
Dass ewig ein Erwachen folgen muss!
Tod-Asche blieb von deinem Feuerkuss.
Fremd schaut dein Blick, der Sonne mir verhiess.

Sieh nicht nach mir, den eben Gott verstiess.
Aus diesem...

III.
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Stürz ich entwurzelt ab in jähen Schacht?...