Am Meere

1.
Allein einst saß ich an Bergesrand
Auf der Furka ragenden Höhn,
Heraufwärts scholl von der Maienwand
Der Herdenglocken Getön.

Des Finsteraahorns Felsenkoloß
Stieg in den Aether empor,
Tief unten im Thale die Rhone schoß
Aus dem Riesengletscher hervor.

Und Gletscherwasser in jähem Lauf
Stürzten hernieder mit Macht,
Ueber des Gotthards Schroffen herauf
Quoll Duft von Italiens Pracht.

Doch ach! was frommt mir die schönste Natur,
Ist nicht die Liebe nah;
Mein Sehnen schweifte zur Heimathsflur,
Ich seufzte: Ach wärest du da! -

Nun sitz' ich am nordischen Klippenrand
Und blicke hernieder aufs Meer,
Es wiegt sich über dem blühenden Land
Von Lerchen ein schmetterndes Heer.

Arconas felsige Burg hält fern
An Deutschlands Grenzen Wacht,
Am Abendhimmel der Liebe Stern
Leuchtet in goldiger Pracht.

Und wieder wird mir die Seele so bang,
Weiß nicht, wie mir geschah,
Und wieder seufz' ich in Sehnsuchtsdrang:
Geliebte, ach wärest du da!

Wohl füllt mich das Meer und der Firnen Schein
Mit ewig-neuer Lust,
Doch der Seele Heimweh stirbt allein
An warmer Menschenbrust.

2.
Nun will der Tag sich neigen,
Die Meerfluth murmelt sacht,
Mit goldenem Sternenreigen
Aufdämmert die Sommernacht,
Leuchtkäfer schwirren in zitternder Luft,
Jasmin versendet berauschenden Duft,
Indes des Nachtwinds Schauer
Sich regt in Buchenpracht.

Beim Murmeln der Wellen, der schwanken,
Hier sitz' ich am Meeresstrand,
Es eilen die stillen Gedanken
Zu dir weit über Land,
Und meine Seele säumt bei dir,
Und meine Seele träumt von dir,
O du, die mir zur Wonne
Ein güt'ger Gott gesandt.

Nun sinkst du auf schwellende Pfühle,
Vom scheidenden Lichte umloht,
Schweifender Sehnsucht Gefühle
Entstiegen dem Abendroth,
Auf Mondesstrahlen pfeilgeschwind
Eilt zu mir her mein süßes Kind,
Und unsre Seelen küssen
Sich hoch ob ird'scher Noth.

Aus: Gedichte von Albert Moeser
Erste Sammlung
Dritte sehr veränderte und vermehrte Auflage
Hamburg Verlagsanstalt und Druckerei Actien-Gesellschaft
1890

Collection: 
1890

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