Warum rufst du?

Waldvöglein redet mit süßem Klang
In das flimmernde Abendlicht -
Es ist ein Ruf, so weckend und bang,
Doch ich verstehe ihn nicht -

Ich bin ja nicht drachenblutgefeit,
Daß ich Vogelstimmen versteh' -
Ich ringe nur mit dem Drachen: Leid,
Doch ich tötete nie das Weh -

Flieg ab, dein Lied klingt mir wie Hohn -
Du führst mich zu keinem Schatz;
Nicht zu der goldnen Niblungenkron',
Und nicht zu dem Waldesplatz,

Wo die Linden hell umblühen ein Schloß,
Wo er mir verloren ist,
Mein fremdgewordener Jugendgenoß,
Der nun lachend andere küßt.

Bist du ein Führer zu großem Glück?
Fliegst du dem Wunsche voran?
Dann geh zu Andern, laß mich zurück,
Denn in Schatten geht meine Bahn.

Doch zeigst du mir zum Sterben den Weg,
Dann zieh' ich dir haltlos nach,
Dann überstürm' ich den steilsten Steg,
Und die Seele wird sehnend wach!

Nun fliegst du mit einem Schrei vom Ast -
Hast du mich fürchtend erkannt?
Als den erdenfremden und müden Gast,
Der sich sehnt in sein Todesland?

Wir haben in alle Ewigkeit
Gemeinsam beide nichts:
Ich, die ich verlernte die Seligkeit,
Du, singender Bote des Lichts ...

aus: Offenbarungen. Dichtungen von Alberta von Puttkamer
Stuttgart 1894

Collection: 
1885

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