Die im Frühling uns entzückt,
Die wir oft am Wasserfalle,
Oft im grünen Wald gepflückt,
Weißt du nicht, daß nicht für immer
Sie des Winters Hand uns nahm,
Daß mit jedem Mai ihr Schimmer
Und ihr Duft noch wiederkam?
Vor des Winters kalten Armen
Haben sie sich jetzt versteckt,
Sich mit Tüchlein, weißen, warmen,
Eingehüllt und zugedeckt!
Blickt die Sonne hell hernieder,
Werfen sie die Tüchlein fort,
Blühen neu und duften wieder
An dem altgewohnten Ort."
Liebste, jene süßen Stunden,
Die uns beide einst beglückt,
Da wir, inniglich verbunden,
Küssend uns die Hand gedrückt,
Weißt du nicht, daß sie im Herzen
Sich zur Zeit nur still versteckt,
Dort mit der Erinn'rung Schmerzen,
Hier mit Liedern zugedeckt?
Glaube mir, daß endlich wieder
Unser Mai auch kommen muß,
Dann verstummen Schmerzen, Lieder,
Und es spricht nur Blick und Kuß;
Wie die fernen Blumen alle
Rufen ich und du ihm zu,
All' in einem Wiederhalle:
Frühling, warum zögerst du?
Aus: Franz Dingelstedt's Sämmtliche Werke
Erste Gesammt-Ausgabe in 12 Bänden
Siebenter Band Zweite Abteilung
(Lyrische Dichtungen Erster Band)
Berlin Verlag von Gebrüder Paetel 1877