Sage
Zu jener Stunde, wo im Zauberschlosse
Dornröschens alles einst, gleich ihr, der Schlaf umfieng,
Da saß die Nachtigall auf einem Rosenzweige,
Der über'm Haupte der Prinzessin hieng.
Sie hatte süß der Liebe Lied gesungen -
Das nun so rasch in Traum und Nacht verklungen.
Und als der Zauber vor der Nacht entflohen,
Mit der der Liebe Wunder nur die Welt umflicht,
Da hebt auch jubelnd Nachtigall die zarten Schwingen,
Mit frischem Klang grüßt sie das neue Licht.
Dornröschen aber spricht die holden Worte:
"Entfleuch, mein Vöglein, jetzt dem Waldeshorte!"
Und frei zog sie hinaus auf sonn'ge Fluren,
Die Künderin der neuerstand'nen Zauberwelt,
Die, aus Dornröschens ew'gem Liebesbund entsprossen,
Von Poesie mit Blütenglanz erhellt -
Und wo das Vöglein fliegt in weite Ferne,
Da leuchten auf im Sang - des Volkslieds Sterne!
aus: Deutsche Dichterin[n]en und Schriftstelerin[n]en
in Wort und Bild
Herausgegeben von Heinrich Groß
II. Band Berlin 1885