Annette von Droste-Hülshoff

(Nach einem Bilde)

An den Balkon gelehnt, so blickt sie ernst hinunter,
Die sinn'ge Dichterin, von stolzer Meeresburg -
Der düstern Wolken grauen Schleier mächtig teilend,
Gießt auf der Erde Schlummer Mondlicht eine Welt,
Das Reich voll strahlender Gedanken, hehrer Tiefe,
Ist vor dem Blick Annettens schimmernd aufgethan.
Sie späht vom hohen Schloß hernieder in die Weite,
Die ihr das Licht erhellt. Tief unten dort der Turm,
Die Kirche, die gleich Schatten aus dem Grunde tauchen,
Fernhin die glänzend lichte Flut des Bodensees,
Aus der der Erdengeister mächt'ge Träume ziehen
Und eines Rätsels Worte flüstern unbelauscht.
Dem Seherauge aber öffnet sich die Pforte,
Die magisch jener Welt Geheimnis uns verbirgt,
Und zu Annettens dringt aus ungekannten Sphären
Ein Wort zur Lösung jedes Dunkels des Weltalls.
Wie in dem Wasserglas des Forschers Aug' erblicket
Das Walten ungeahnter Kräfte der Natur,
So fühlt sie nur im Weh'n der Luft, im Glanz der Wellen
Den Hauch des ew'gen Geistes, der im Kuß der Nacht
Die Erde, die da schlummert, mild umfangen haltend,
Dem milden Sterne flüstert leis im tiefen Traum.
Das Wort, das alles Elend Gottes ferner Welten
Erlösend, ahnungsvoll zu sel'gen Höhen trägt. -
Ein kaltes Weh'n um ihre Stirn' - ein banger Seufzer -
Dahin ist jene Ahnung, die das Heil verhieß,
Und eine Sehnsuchtsthräne bebt am Aug' Annettens.
"Warum entschwand mir doch der Lösung hehrer Spruch?"
Da flüstert's leise, leise tief in ihrem Herzen:
"Im flücht'gen Hauche nur streift des Weltalls Geheimnis
Den Geist, solang' auf Erden Du am Leib gefesselt -
Doch in des Herzens Tiefe, ungeahnt und reich,
Da ruht der Schatz des Menschentums, des Friedesegens.
O heb' ihn glaubensvoll, mit milder, weicher Hand,
Und spende ihn der Not der Menschheit im Erbarmen.
Die Liebe ist es, die auf dunkler Erdenflur
In Blick und Wort und That jedwedes Dunkel lichtet,
Ein Schatz, um den selbst Himmlische den Menschen neiden,
Der gold'ne Schlüssel, der das Weltall uns erschließet!"
Tiefinnig lauschend diesem ernsten, heil'gen Spruch,
Beugt sich Annette demutsvoll der Geisterbotschaft
Und bringt, getreu der Sendung, schon nach Mondenfrist
Der Welt ihr "Geistlich Jahr" als warme Liebesgabe,
Ein Laut, ein milder Strahl aus reiner Sphären Glanz.

aus: Deutsche Dichterin[n]en und Schriftstelerin[n]en
in Wort und Bild
Herausgegeben von Heinrich Groß
II. Band Berlin 1885 (S.145)

Collection: 
1888

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