Man glaubt, daß ich den herben Schmerz vergessen,
Weil keine Thräne mir in's Auge quillt,
Daß nach den Lieben, die ich einst besessen,
Die Sehnsucht nimmer meine Seele füllt!
O sähen sie, die thöricht also denken,
Wenn Nacht und Ruh die Erde rings bedeckt,
Mein Antlitz tief sich in die Kissen senken,
Und wüßten sie, was aus dem Schlaf mich weckt!
Da, bei der Kerze einsam mattem Flimmer,
Schwebt leis ein Bild um's andre zu mir her;
Der holden Augen freundlich milder Schimmer,
Der Mund, den ich geküßt im Abschied schwer -
Ich seh sie all - die Arme breiten sehnend
Nach ihnen hin, und sinken leer zurück,
Doch falte ich die Hände, fromme wähnend,
Daß sie mir nah, wie flücht'ger Sternenblick.
Allnächtlich feire ich ein Fest mit Trauern:
Den still geheimnisvollen Allerseelentag;
Auf Gräbern knie ich, fühl's mit süßem Schauern,
Daß jetzt noch mein, was lang schon modern lag.
Und aus des Lebens trüb bewegten Wogen
Flücht ich zur immergrünen Insel hin -
Erinnrung ist's, zu der ich hingezogen,
Wo alle Rosen meiner Liebe blüh'n!
aus: Unsere Frauen in einer Auswahl aus ihren Dichtungen
Poesie-Album zeitgenössischer Dichterinnen
Von Karl Schrattenthal
Mit zwölf Porträts in Lichtdruck
Stuttgart 1888