Blumenorakel

Weißt du wie du die Blume brachst
Vom Wegesrand
Und ich, was Du so leise sprachst,
Nur halb verstand?
Es war ein Maaßlieb, zart geschmückt
Mit weißem Sternenkragen
Und sollte nun, von mir zerpflückt,
Sein hold Orakel sagen.

Mit scharfem Auge hatt' ich flugs
Genau gezählt
Und schlau danach des Kettenspruchs
Beginn gewählt,
Um bei dem Odergarnichtschluß
Das letzte Blatt zu brechen,
Damit in reizendem Verdruß
Du möchtest widersprechen.

Verkehrt, für Dich, zu fragen fiel
Mir gar nicht ein;
Du wußtest mir schon viel zu viel
Vom Augenschein.
"Sie liebt mich" – fing ich an. – Bevor
Ein Blatt ich ausgerissen
Riefst Du schon, roth bis unter's Ohr:
"Das will ich gar nicht wissen!"

Von dir belehrt begann ich neu:
"Ich liebe dich . . ."
Und sah dir's an, wie bange Scheu
Dein Herz beschlich,
Es möchte sich der Blumenstern
Bei kaltem Spruch entlauben.
O wie belauscht' ich dich so gern
Aus süßem Aberglauben.

Ach, in der eignen Schlinge war
Ich nun verstrickt!
Allein ich mied die Schlußgefahr
Nicht ungeschickt.
Erfundne Reime pascht' ich glatt
In eines Sprunges Lücken
Um nun der Blume letztes Blatt
Beim besten Spruch zu pflücken.

Da sprach dein lächelnd Angesicht:
"Schelm, du betrügst!
Doch zürn' ich nur, wofern du nicht
Die Wahrheit lügst."
Im klar durchschauten Spiel noch fand
Dein Herzensglaube Nahrung;
Auch sicher, harrtest du gespannt
Der Blumenoffenbarung.

Nun sagte mir ein Freudenstrahl:
Schon vor der Zeit
Entnahm dein Blick der Blätterzahl
Den Schlußbescheid.
Das letzte fiel; es warf das Loos:
"Ich liebe dich über die maaßen"
Und flockte weiß in's grüne Moos
Wo wir der Welt vergaßen.

Collection: 
1871

More from Poet

  • Allabendlich vor Schlafengehn
    Muß ich der Liebsten Bild besehn.
    Dem sag ich leise gute Nacht
    Und frag es: hast du mein gedacht?

    Und lösch' ich dann der Lampe Licht
    So taucht dein holdes Angesicht
    Hervor aus finsterm...

  • Noch immer hält da droben
    Der Sonne Abendgold
    Des Berges Haupt umwoben –
    Uns ist sie längst hinabgerollt.
    Noch halt' ich deine Hände
    Mit meinen warm umpreßt
    Und noch nicht ganz zuende
    Ist dieses schöne...

  • Weißt du wie du die Blume brachst
    Vom Wegesrand
    Und ich, was Du so leise sprachst,
    Nur halb verstand?
    Es war ein Maaßlieb, zart geschmückt
    Mit weißem Sternenkragen
    Und sollte nun, von mir zerpflückt,
    Sein...

  • Wie im Herbst zum zweiten mal
    Manche Bäume blühen,
    So beginnt mein altes Herz
    Jugendlich zu glühen.

    Sei vernünftig, halte fest
    Deine stolze Kühle;
    Laß nicht keimen aus dem Scherz
    Innige Gefühle.

    ...
  • Die Zeit verfiel in Schneckengang,
    Ich, der Poet, in Klügeln.
    O Muse, sende mir Gesang
    Die Stunden zu beflügeln!

    Zur Wüste wird mein Leben mir
    Wenn keine Verse quillen;
    Ich kritzle Schnörkel auf's Papier,...