Nachtgesicht

Allabendlich vor Schlafengehn
Muß ich der Liebsten Bild besehn.
Dem sag ich leise gute Nacht
Und frag es: hast du mein gedacht?

Und lösch' ich dann der Lampe Licht
So taucht dein holdes Angesicht
Hervor aus finsterm Hintergrund
Wie aus Gewölk des Mondes Rund.

Da lächelst du so liebevoll
Und winkst mir daß ich folgen soll;
Du reichst mir helfend deine Hand,
Schlägst auch um mich ein Lichtgewand.

Wir halten innig uns umfaßt
Und schweben, frei der Erdenlast,
Bis in ein Land voll Sonnenschein –
Da bin ich dein, da bist du mein.

Doch ach, dies Land ist nur ein Wahn
Und wachend find ich nie die Bahn.
Mein Glück hat nicht im Leben Raum,
Es ist und bleibt ein schöner Traum.

Collection: 
1871

More from Poet

  • Allabendlich vor Schlafengehn
    Muß ich der Liebsten Bild besehn.
    Dem sag ich leise gute Nacht
    Und frag es: hast du mein gedacht?

    Und lösch' ich dann der Lampe Licht
    So taucht dein holdes Angesicht
    Hervor aus finsterm...

  • Noch immer hält da droben
    Der Sonne Abendgold
    Des Berges Haupt umwoben –
    Uns ist sie längst hinabgerollt.
    Noch halt' ich deine Hände
    Mit meinen warm umpreßt
    Und noch nicht ganz zuende
    Ist dieses schöne...

  • Weißt du wie du die Blume brachst
    Vom Wegesrand
    Und ich, was Du so leise sprachst,
    Nur halb verstand?
    Es war ein Maaßlieb, zart geschmückt
    Mit weißem Sternenkragen
    Und sollte nun, von mir zerpflückt,
    Sein...

  • Wie im Herbst zum zweiten mal
    Manche Bäume blühen,
    So beginnt mein altes Herz
    Jugendlich zu glühen.

    Sei vernünftig, halte fest
    Deine stolze Kühle;
    Laß nicht keimen aus dem Scherz
    Innige Gefühle.

    ...
  • Die Zeit verfiel in Schneckengang,
    Ich, der Poet, in Klügeln.
    O Muse, sende mir Gesang
    Die Stunden zu beflügeln!

    Zur Wüste wird mein Leben mir
    Wenn keine Verse quillen;
    Ich kritzle Schnörkel auf's Papier,...