Heut war dein Todestag. Ich konnt nicht beten,
ich konnt nicht weinen; müde schwieg mein Herz.
Zur Nachtzeit war ich in den Wald getreten;
starr lag er da, wie eine Welt von Erz.
Schläfst du denn, Leben? Will sich gar nichts regen?
Mich dünkt, ich selber wär vor Leid versteint.
Es meidet mich der Thränen linder Segen,
und dieser Nacht bleibt selbst ihr Thau verneint.
So still, so ernst, so bleiern! Mitternacht!
Wohin hat sich das Leben denn verkrochen?
Als ob der Tod mit seiner schwarzen Pracht
erdrückt des Erdenherzschlags lautes Pochen.
Da ... nein, das .. ist ... o Gott, das ist ja Traum,
das muß ja Traum sein, denn die Wirklichkeit
erdichtet solche Wunderthaten kaum ...
Ein Vogel singt, um Mitternacht! .. ganz leise,
als flüstern liebe Lippen, singt er; schauernd
beugt sich mein Knie der wunderbaren Weise.
Das ist kein Vogel, was da oben singt,
das ist die fleischgewordene Erbarmung
der ewigen Liebe, die den Tod bezwingt
und Starres weckt zu seliger Erwarmung.
Und plötzlich dünkt der Wald mich ganz erhellt,
in weißen Kränzen seh ich Wesen gleiten,
die lichten Söhne einer andern Welt,
die nach der Schwester ihre Arme breiten.
Heut ist dein Todestag! Nun kann ich beten,
nun kann ich weinen ... Freudenthränen weinen ...
Aus: Maria Janitschek Im Sommerwind Gedichte
Leipzig 1895 Verlag Kreisende Ringe (Max Spohr)