Der Tag wird kommen, der das Räthsel löst

Der Tag wird kommen, der das Räthsel löst,
Das einen Abgrund zwischen uns erschlossen.
Kein Balsam, den die Zeit in Wunden flößt,
Sind solche Thränen, die der Schmerz vergossen.

Ich klage dich nicht an. Du bist im Recht.
Ich kann nur klagen, daß ich dich verloren,
Nicht weil den Schild ich fortwarf im Gefecht,
Nein, weil sie Gift dir gossen in die Ohren.

Ein Riese war mein Muth und ohne Grau'n.
Doch wie ein Wandrer, der durch Wildnißföhne
Hinschreitet, sah ich dich herniederschau'n
Medusengleich voll Grauen und voll Schöne.

Lang stand ich dort in starrer Geistesruh',
Gelähmt und hoffend, bangend, ob ein Andrer
Einst glücklicher die Räthsel löst, die du
Wie jene Sphinx aufgabst dem fremden Wandrer.

Dann wehe dir! Er schleudert dich hinab
Von deiner Höhe in des Abgrunds Schlünde
Und setzt dann weiter seinen Wanderstab,
Läßt liegen dich in Ohnmacht und in Sünde.

Dann kommt der Tag, der deine Räthsel löst,
Die einen Abgrund zwischen uns erschlossen:
Kein Balsam sind die Thränen, die vergossen,
Den sonst die Zeit in alle Wunden flößt.

Collection: 
1882

More from Poet

  • Weißt du noch - in Maienmonden,
    Als wir gingen unter Birken?
    Heil'ges Schweigen war verbreitet
    In der knospenden Natur;
    Denn sie hatte still zu wirken
    In den Wäldern, auf der Flur.
    Tausend Wiesen an den Buchten,...

  • In der Kapelle war's. Beim Kerzenschein
    Die Messe klang. Die Fenster aus und ein
    Um hohe Säulen Schwalben zwitschernd flogen.
    Zwar sprach mein Mund zu dir im Liebesschwur,
    Beklommen nur, - doch in die Zukunft zogen
    Beflügelte...

  • Die Brunnen rauschen stille,
    Mein Herz, das schlägt dazu.
    Kein Nachtwind kühlet die Stirne,
    Kein Frieden ist süß wie du.
    Die Welt liegt nun in Träumen
    Von Liebe, von Lust und Leid;
    Doch meine Gedanken durchwandern...

  • Gute Nacht und gute Nacht!
    Und auch heut noch kein Geständniß.
    Warum scheuchte mir die Macht
    Deines Blicks ein tief Bekenntniß?
    Doch schon jetzt im Windeswehn
    Wachst vielleicht du auf zum Weinen,
    Möchtest nun...

  • An der Kirchthür bin ich vorbeigegangen,
    In den Linden schlief der Wind.
    Ach, was mach' ich diesen lieben langen
    Sonntag ohne dich, mein Kind?

    An der Kirchthür sah ich fernes Leuchten,
    Kerzen in der Altarpracht;
    ...