Der versteckte Amor

Um den holden Götterknaben,
Amor, einen Thron zu bauen,
Schritten durch die Blumenauen
Leicht die Grazien daher
Schlummernd ließen sie den Kleinen,
Den sie pflegten und bewachten;
Darum eilten sie, und dachten
Auf die schnelle Wiederkehr.

Als sie nun mit leisem Schritte
An dem Lager, dem umzweigten,
Sorglich bang sich niederneigten,
War der kleine Gott entflohn.
"Weh' uns, Amor ist verloren!"
Rufen bang die Charitinnen,
Und mit angstverworr'nen Sinnen
Spähn sie nach dem Göttersohn.

Bald ruft's aus dem Hain: "Hier bin ich!"
Stumm, und freudiglich erschrocken,
Eilen dem geliebten Locken
Unverweilt die Schwestern nach.
Immer lauter wird das Rufen;
"Hier!" ertönt's ganz nah, und "dorten!"
Neckend Winken aller Orten,
Tausend Stimmen werden wach.

"Amor will Verstecken spielen!"
Lächelt leise Euphrosine,
Und mit schlauer, kluger Miene
Geht sie tiefer in den Hain.
In die allerdicht'ste Hecke,
Wo kein Blättchen sich beweget,
Sich kein Laut, kein Flüstern reget,
Dringt ihr spähend Aug' hinein.

Und, sieh' da! - Versteckt im Laube,
Sich verbergend vor dem Lichte,
Sitzt mit schelmischem Gesichte
Der entfloh'ne, kleine Gott.
Und, die Flügel schnell ihm bindend,
Wahrt die Frohe ihre Habe,
Sanft und duldend trägt der Knabe
Ihrer Augen losen Spott.

Als nun froh die Andern nahen
Ruft der kleine Schalk, gebunden:
"Ihr, die Ihr mich gern gefunden,
Hört mein Wort, und merkt Euch dieß:
Nicht, wo man von Liebe plaudert,
Nein, wo es am tiefsten schweiget,
Schüchtern sich kein Wörtchen zeiget,
Seyd Ihr meiner stets gewiß!"

aus: Gedichte von Agnes Franz
Erste Sammlung Zweite Auflage Essen 1836

Collection: 
1836

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