Liebfrauentag

So rufen Glocken himmelan;
Und aus der Stadt, der weiten, drängen
Die Menschen festlich angetan.
So komm doch! unter grünen Hecken
Im Waldesschatten, süßes Kind,
Laß uns ein junges Glück verstecken
Vor Menschen, die uns neidig sind.

Zu kurzer Ruhe laß Dich nieder -
Was ist der weite Wald so hold!
Sieh - jener Amsel schwarz Gefieder,
Die Sonne übergießt's mit Gold,
Wie anmutsvoll ist jene Helle,
Die jäh durch Buchenkronen dringt!
Sieh, wie behende die Libelle
Den stahlgefärbten Fittig schwingt!

Sprich: kennst Du auch die holde Sage,
Des Tages Deutung, ganz genau?
Du weißt, es stieg an diesem Tage
Gen Himmel unsre liebe Frau;
Schon war bereitet sie zum Fluge,
Schon klang der Englein Festgesang:
Da kam herzu in wirrem Zuge
Viel armes Volk, das Leid bezwang.

Denn aus geborstner Bäume Stumpfe
Kroch manche Natter scheu hervor;
Die Kröte kam aus ihrem Sumpfe,
Der feuchte Molch verließ sein Moor.
Der Eidechs ist herzu gelaufen,
Die Blindschleich' nahte sich bedacht;
Es haben vor dem hellen Haufen
Die Unken Marschmusik gemacht.

Die Mücke flog herzu, die kecke,
Saß schlau auf Engelein und stach,
Indes die brave, stille Schnecke
Als Sprecherin zur Herrin sprach:
"Maria! immerdar verschlossen
Muß uns der lichte Himmel sein,
Führst Du, als Deiner Fahrt Genossen,
Uns heute nicht mit Dir hinein.

Ach, frage nicht, was uns die Erde,
Du meine Güte! jemals bot.
Ach, eitel Leiden und Beschwerde,
Nichts als Verfolgung und als Not.
Du trugst das Heil auf Deinen Armen,
Der Welterlöser ist Dein Kind -
So trage mild mit uns Erbarmen,
Die wir vom Heil verstoßen sind!"

Maria neigte sich dem Volke
Und sprach: "Heut ist mein Ehrentag.
Drum nehme Platz auf meiner Wolke,
Was Platz zu finden nur vermag.
Heut öffnen sich des Himmels Luken
Und offen liegt das höchste Glück -
Das dürft Ihr schauen und begucken,
Dann senkt zur Erde Euch zurück.

Und zum Erinnern jenem Heile,
Das Euch zu dieser Frist ergötzt,
Sei meines Tages kurze Weile
Zu stetem Frieden Euch gesetzt;
Da werdet frei von allen Nöten,
Da sei die Freude Euch zur Pflicht,
Kein Mensch soll Euch bedrängen, töten -
Nur quält mir meine Menschen nicht!"

Nun weißt Du, warum Heimchen schrillen,
So holdes Licht durch Zweige dringt;
Warum den Wald, den mittagstillen,
Ein Finkenruf so laut durchklingt. -
Es schwärmen jubelvoll die Mücken,
Es glänzt so hell der weite Hag -
Komm! laß Dich an das Herze drücken:
Süß Lieb: heut ist Liebfrauentag!

Collection: 
1908

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