Mitten in der Nacht

Schluchzend fuhr ich auf ... die erste Stunde
Schrie vom Turm wie ein Posaunenton,
Der die Schuld'gen sucht im Erdengrunde.
Rufst du zum Gerichte heute schon?

Draußen kommt der Sturm wie Flügelrauschen
Einer bangen, bangen Ewigkeit;
Einer Frage mußt' ich zitternd lauschen:
"Bist du zu der Himmelfahrt bereit?"

Wie ich sinne, hör' ich's leise pochen -
Rührend kommt mir deiner Stimme Laut,
Und du hast mit tiefem Ton gesprochen:
"Es wird jüngster Tag! Komm, meine Braut!"

Weinend sankst du hin an meinem Bette.
Wie dein süßer Mund von Liebe brennt!
Klirrend war's, als spränge jene Kette,
Die uns auf der Erde einst getrennt ...

Mit unsäglich zärtlicher Gebärde
Lehntest du dein Haupt an meines an,
Wie du drunten auf der dunklen Erde
Es so glückesheimlich oft gethan -

Und wir flogen auf, wir selig Freien,
In die große, wolkenvolle Nacht.
Aus den frohentflammten Sternenreihen
Ist es wie barmherz'ger Ton erwacht:

"Oeffnet groß die Himmel ihren Schritten,
Daß sie nun die Ewigkeit vereint,
Die um Liebe also tief gelitten,
Daß ein Engel bittend für sie weint." ...

- - - - - - - - - - - - - - - - - -
Schluchzend fuhr ich auf ... die erste Stunde
Schrie vom Turm wie ein Posaunenton;
Flehend sucht' ich in der leeren Runde,
Aber die Erlösung war entflohn.

Eine Wolke riß; grausame Helle
Sendete in mein Gemach ein Stern,
Und die Wahrheit stand auf meiner Schwelle,
Und sie flüsterte: "Er ist dir fern" ...

aus: Offenbarungen. Dichtungen von Alberta von Puttkamer
Stuttgart 1894

Collection: 
1885

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