O holde Thörin, kannst du wähnen,
Uns gingen je die Lieder aus,
Weil endlich trocknen unsre Thränen
Und fern liegt der Verzweiflung Graus?
Weil unsrer Liebe wilde Lohe
Im purpurrothen Kuß zerstiebt,
Entwich die Muse uns, die Hohe
Die uns im Schmerz so hoch geliebt?
Als uns noch fremde Bande drückten
Und zwischen uns Entsagung trat,
Als nur noch Blicke uns beglückten,
Die heimlich suchten ihren Pfad;
Da haben wir im Geist verbunden
Gedanken und Gefühl getauscht,
Und dennoch hat in stillen Stunden
Das Lied gedankenschwer gerauscht.
Nun ist uns Alles freigegeben
Der Mund, die Locken, Brust und Hand;
In süß verstummtem Wonnebeben
Löscht sich des Geistes Flammenbrand.
Viel holder ist's von deinen Lippen
Der Küsse unermessne Zahl,
Als Wort und Töne wegzunippen,
Die ich dir sonst vom Munde stahl.
Drum binden nun sich die Gedanken,
Die einst in schlichtem Wort getönt,
Fest in des Liedes goldne Schranken
Und treten vor dich hochverschönt.
Ein jedes Lied, das ich dir sende,
Gönnt mir zu einem Kuß die Zeit -
Und du meinst, weil der Gram zu Ende,
Sei auch die Muse von uns weit?
Aus: Gedichte von Gottfried Kinkel
Sechste Auflage Stuttgart und Augsburg
J. G. Cotta'scher Verlag 1857