Im Postwagen

Wir saßen im Wagen, zu drei oder vier,
Ein verschleiertes Weib gegenüber mir.

Der Mond schien hell zum Fenster herein
Und floß um ihr Haupt wie Heiligenschein.

Es war so heimlich drinnen, so traut,
Im Dunkel draußen kein Licht, kein Laut.

Nur die Räder knarrten in sandigem Gleis,
Die ledernen Polster seufzten leis.

Wer bist du, fremdes, liebes Gesicht,
Mit den großen Augen im Mondenlicht?

Halt' deine Blicke nicht abgewandt;
Du bist einsam wie ich, komm, reich' mir die Hand!

Und lehn' an meine Schulter dich an,
Wenn die müde Stirn nicht mehr wachen kann!

Ich hörte sie athmen, sanft und tief,
Ihr Busen wogte, das Mädchen schlief.

Eine Stunde, so hielt der Wagen an,
Am Schlage stand harrend im Mantel ein Mann.

Das Posthorn klingt, das Mädchen erwacht,
Ein Grüßen, ein Küssen durch die Nacht.

Sie hatten sich wieder, ein liebendes Paar,
Sie herzten sich, daß eine Lust es war.

Der Schleier fiel, das Laternenlicht
Beleuchtete grell ein Engelsgesicht.

Ich sah es von fern, mein Herz war voll,
Eine Thräne heiß aus der Wimper quoll.

Der Wagen flog wieder davon und vorbei,
Da standen noch immer umschlungen die Zwei.

Ich fuhr allein hinaus in die Nacht;
Ach, wär' sie doch nimmer, nimmer erwacht!

Aus: Franz Dingelstedt's Sämmtliche Werke
Erste Gesammt-Ausgabe in 12 Bänden
Siebenter Band Zweite Abteilung
(Lyrische Dichtungen Erster Band)
Berlin Verlag von Gebrüder Paetel 1877

Collection: 
1877

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