Ich hab' Dich immer nur gesehen
Von einem Schleier überwallt,
Der wie ein Duft mit leisem Wehen
Umspielte Deine Huldgestalt.
Ob er der Anmut vollen Schimmer
Verhüllte, dennoch liebt' ich ihn,
Den Schleier, der ein Bild mir immer,
Jungfräulichkeit, von Dir erschien!
Ist's doch der Reiz der Mädchenseele,
Daß auch auf ihr ein Schleier liegt,
Nicht, daß er bergend etwas hehle,
Doch mildernd alles sanft umschmiegt.
Da - plötzlich im erhellten Saale
Seh' ich Dich stehn in Schmuck und Glanz
Und jetzt erst, jetzt zum ersten Male,
Wie schön Du bist, begreif' ich ganz!
Mein Herz erfaßt's mit holdem Beben,
Du bist wie schleierloses Glück!
Doch wär's auch besser - für mein Leben
Wünscht' ich den Schleier nicht zurück!
Und mit Gedanken, wonnig tötend,
Denk' ich: Wie wird einst jenem sein,
Vor dem den Schleier Du errötend
Senkst, Mädchen, von der Seele Dein!
aus: Deutsche Lyriker seit 1850
Mit einer litterar-historischen Einleitung
und biographisch-kritischen Notizen
Herausgegeben von Dr. Emil Kneschke
Siebente Auflage Leipzig Verlag von Th. Knaur 1887