1840
Süß ist die mitternächtige Stunde,
Die weit die Herzen offen schließt,
Wenn von des Liebchens jungem Munde
Manch traut Geheimniß sich ergießt.
Sie plaudert kindisch, bang, bescheiden
Von Mädchentand, der sie umgiebt,
Sie beichtet, wie mit stillem Leiden
Sie heimlich dich schon lang geliebt.
Doch reicher ist des Tages Helle
Gedämpft zu halbem Dämmerschein;
Es winkt die wohlbekannte Schwelle,
Zum stillen Zimmer tret' ich ein:
Wo bleich und ernst mir Grüße spendet
Ein Mund, der Andre fliehen heißt,
Wo von den Menschen abgewendet
Sich mir erschließt ein reicher Geist.
O einen Schatz hast du gefunden,
Wenn eine Freundin auf dich baut,
Dir aufdeckt ihrer Seele Wunden,
Auch ihren Jubel dir vertraut;
Wenn sie vor deinen wachen Blicken
Das Leben noch einmal durchlebt,
Von großen stillen Augenblicken
Für dich den Schleier freundlich hebt.
Du siehst das Kind sich frei entfalten,
Das ausgereift nun dir sich zeigt,
Der ersten Liebe Vollgewalten,
Wie Mannesglut sie nie erreicht.
Du siehst die Täuschung, siehst des Lebens
Verworr'nen Gang in bleichem Licht;
Sie zeigt den Lohn dir hohen Strebens,
Und auch den Fehler hehlt sie nicht.
Da schaust du solche Lebensschöne,
Du bebst ob solcher Schmerzenlast,
Du hörst so wunderbare Töne,
Wie du sie nie empfunden hast.
Das Stärkste zeigt sich dir, was immer
An Lieb' und Haß die Erde hegt,
Wenn sich in unverfälschtem Schimmer
Ein Frauenherz dir offen legt.
Nun fährst du auf des Lebens Strome,
Rings schimmert Frühlingsblütenpracht,
Am Ufer stehn die hohen Dome,
Die alten Berge halten Wacht.
Doch kennst du nun die flache Stelle,
Du fliehst gewarnt das scharfe Riff,
Und selber auf der Schmeichelwelle
Lenkst sicher du dein kleines Schiff.
Aus: Gedichte von Gottfried Kinkel
Sechste Auflage Stuttgart und Augsburg
J. G. Cotta'scher Verlag 1857