Der Schmetterling

Sie sah ihm nach: es war ein großer Falter,
Der Flügelschlagend und in kurzen Stößen
Die Luft zerteilte, die so schwül und drückend
Wie aus den Kronen nächtiger Nelken rann.

Gleich jenem Falter schwand ihr junges Glück
Und es verstob allmählich so im Dunkel
Der weiten Ferne, wie zur Sommernacht
Die müde Seele sich mit irrem Flug
Ins Blaue schwingt, zur Heimat ihrer Träume.

Gleich jenem Falter schwand aus ihren Blicken
Ins Weite fort und ohne Wiederkehr
Der, den sie liebte. Unvernommen blieb
Der stumme Schrei, drin all die tiefe Sehnsucht
Und eines Jugendglücks Unendlichkeit
Und wilder Schmerz und letzte Liebe lag.
- - - - - - - - - - - - - - - - - - -

Seit jener Nacht verrann so manches Jahr,
Der fünfte Sommer ließ die Welt schon blühn
In tausend Farben, und die Menschen lachten
Und freuten sich. Auch sie war glücklich nun,
Nicht in dem Überschwang von Glück und Glanz,
Den sie erträumt in ihren Mädchentagen,
Doch in dem Glücke jenes stillen Lebens,
Das keine Glut und keine Stürme kennt.

So stand sie einst, in einer Vollmondnacht,
Am Fensterkreuz des kleinen Gartenzimmers
Und sah den Nachtwind durch die Sträucher gehn.
Nicht weit von ihr, zur zarten Faust geballt
Die lieben Händchen, schlief ihr Töchterlein
In seiner Wiege wie ein Gottesengel.

Sie wandte sich und lächelte verträumt -
War sie nicht glücklich? Durch die Julinacht
Kam jetzt ein Duft. Der zog vertraut und schwül
Von Strauch zu Strauch, den ganzen Garten durch,
Bis hin zu ihr. Da ward es vollends still
In ihrem Innern; ihrer Seele Spiegel
Lag glatt und klar, von keinem Hauch gekräuselt.
Die blauen Wellen eines großen Glücks,
Die dunklen Wellen eines tiefen Schmerzes,
Sie schliefen beide. Immer schwüler ward
Der Nelkenduft, und plötzlich aus den Zweigen
Des Apfelbaums, der rechts vom Fenster stand,
Hob sich ein Schmetterling mit leisen Flügeln
Und schwebte lautlos in die Nacht hinein.
Stets weiter fort, in kurzen, schweren Stößen,
Bis er verstob im Dämmer weiter Ferne.

Sie sah ihm nach mit großen, offnen Augen,
Wie er dahinflog. Doch sie dachte nichts.
Nur traurig ward sie, ohne selbst zu wissen,
Weshalb sie traurig ward. Der Falter flog
Und wiegte sich und schwand. Sie aber lehnte noch,
Als sie ihn längst nicht mehr erblicken konnte,
Am Fensterkreuz und weinte laut und lange.

aus: Neue Gedichte von Carl Busse
Stuttgart 1896
Verlag der J. G. Cotta'schen Buchhandlung Nachfolger

Collection: 
1896

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