Rhapsodie
Unerforschtes wundersames Wesen,
Wie, wie werd' ich denn mit dir vertraut?
Wer hat im Verborgnen dich gelesen?
O wer hat dein Innerstes durchschaut?
Sinnend forsch' ich in den dunkeln Tiefen,
Möchte endlich, endlich dich erspähn,
Und studiere deine Hieroglyphen,
Kann und kann sie nimmermehr verstehn. -
Forsche den Gesetzen deines Strebens,
Deines Abscheu's und Begehrens nach,
Sinn' und forsch' und späh' ihm nur vergebens,
Wie den Fluten jenes Stromes nach.
In dem Strome drängen Wellen Wellen;
Wünsch' auf Wünsche drängen sich in dir;
Deine Fluten sinken, steigen, schwellen,
Der Begierde folget die Begier.
Aber wie entspringt der Drang der Wogen?
Welle, sprich, woher dir die Gewalt?
Siehe, Damm und Deich und Brück' und Bogen
Stürzt dahin, dass Hain und Fels erschallt. -
Doch schon legen sich die stolzen Wellen,
Schäumend siehst du ihre Wirbel fliehn.
Siehest ihren Spiegel sich erhellen,
Schaust des hehren Himmels Abglanz drin.
Unerforschlichstes von allen Dingen,
Herz, o Herz! wann werd' ich dich verstehn?
Soll ich nie in deine Tiefen dringen?
Deines Wesens Quellen nie erspähn?
Unterm Mond ist wohl nichts zarter, reiner,
Milder, edler, grösser nichts als du -
Unterm Mond ist nichts unedler, kleiner,
Ränkevoller, schwächer nichts als du.
Schön bist du in deiner reinsten Milde,
Alles, alles huldigt dir entzückt.
Wer erkennet nicht in deinem Bilde
Deines Urbilds Züge abgedrückt?
Gross bist du in hoher Einfalts-Würde,
Schweigend von der Abart selbst verehrt,
Gross, belastet von der Fürstenbürde,
Schön und gross am armen eignen Herd,
Gross und schön in sonnenheller Freude;
(Alles lacht in deiner Wonne Glanz)
Aber grösser, grösser doch im Leide,
Rührender in deinem Dornenkranz.
O! dein Lächeln - wie's mit Rosenröthe
Jedes offne Angesicht verschönt!
Deine Rührung ist wie Laut der Flöte,
Wenn sie leise von der Lippe tönt.
O dein Thau kann tröpfend Steine höhlen;
Ja, wer sahe nicht das Wunder schon,
Sah nicht kalte, starre Felsenseelen
Weicher werden als des Töpfers Thon?
Wer, wer lehrt dich den Gebrauch der Schätze,
Die des Himmels Mächte dir vertraun?
O wer giebt dem wilden Strom Gesetze?
Wer will Damm und Deich entgegen baun?
aus: Neue Sammlung von Gedichten
von Caroline Rudolphi
Leipzig 1796