Es weidet Milon stets allein
Im Eichthal an dem Bach,
Und eilet in den tiefsten Hain,
Folgt ihm ein Hirte nach.
Da dringt nicht mehr der Sänger Lied
An sein verschloßnes Ohr,
Da seufzt er, daß ihn Chloe flieht,
Den Espenbäumen vor.
Meynt er, weil ihm mein Auge nicht
Was ich empfinde, klagt,
Ich wäre kalt und fühlte nicht,
Hätt' ihm mein Herz versagt?
O, guter Milon, wüßtest du,
Was hier im Busen schlägt!
Wer mir in Nächten ohne Ruh
So süsse Träum erregt! -
Sagt ihm, ihr Bäum' am Wasserfall,
Sagts; daß ihn Chloe liebt.
Vertrau es ihm, o Nachtigall,
Daß ihn sein Mädchen liebt!
Doch, sagt ihm ja nicht, wessen Mund
Euch diese Bothschaft lieh;
Vor Scham verging' ich, würd' es kund,
Vor Scham säh' ich ihn nie.
aus: Gedichte von Karoline Christiane Louise Rudolphi
Herausgegeben und mit einigen Melodien begleitet
von Johann Friedrich Reichardt
Berlin 1781