Begegnung

Du holde Traumgestalt,
Wie aus verschwundnen Zeiten,
Wie kommt's, daß du so kalt
Mir kannst vorüberschreiten?
Und doch - dein Aug', das klare,
Nachleuchtet gnadenmild,
Als blickte vom Altare
Ein sanft Madonnenbild.

Und kommt ein andrer Tag,
Am selben öden Orte
Zähl' ich der Stunden Schlag
Und harr' an dunkler Pforte,
Und zähl' des Herzens Schläge,
Das dein, du Liebste, denkt,
Ob heut auch auf dem Wege
Dein Auge scheu sich senkt.

Doch flammt ein innres Glühn
Auf Wangen dir, den blassen,
Wer fände Muth, sich kühn
Ein ganzes Herz zu fassen!
Du gehst, und wieder nüchtern
Und öde ist der Ort -
Wer lehrt die Lippen schüchtern
Das erste Liebeswort!

Collection: 
1882

More from Poet

  • Weißt du noch - in Maienmonden,
    Als wir gingen unter Birken?
    Heil'ges Schweigen war verbreitet
    In der knospenden Natur;
    Denn sie hatte still zu wirken
    In den Wäldern, auf der Flur.
    Tausend Wiesen an den Buchten,...

  • In der Kapelle war's. Beim Kerzenschein
    Die Messe klang. Die Fenster aus und ein
    Um hohe Säulen Schwalben zwitschernd flogen.
    Zwar sprach mein Mund zu dir im Liebesschwur,
    Beklommen nur, - doch in die Zukunft zogen
    Beflügelte...

  • Die Brunnen rauschen stille,
    Mein Herz, das schlägt dazu.
    Kein Nachtwind kühlet die Stirne,
    Kein Frieden ist süß wie du.
    Die Welt liegt nun in Träumen
    Von Liebe, von Lust und Leid;
    Doch meine Gedanken durchwandern...

  • Gute Nacht und gute Nacht!
    Und auch heut noch kein Geständniß.
    Warum scheuchte mir die Macht
    Deines Blicks ein tief Bekenntniß?
    Doch schon jetzt im Windeswehn
    Wachst vielleicht du auf zum Weinen,
    Möchtest nun...

  • An der Kirchthür bin ich vorbeigegangen,
    In den Linden schlief der Wind.
    Ach, was mach' ich diesen lieben langen
    Sonntag ohne dich, mein Kind?

    An der Kirchthür sah ich fernes Leuchten,
    Kerzen in der Altarpracht;
    ...