X.

X.
Hör' an, mein Kind, was ich dir kosend sage,
Wie mich ein Traum betrog so wunderbar:
Es war an einem stillen Feiertage,
Als ich mit dir bei Gott im Himmel war.
Er schaute eben noch vom Taubenschlage
Aus in die Sonntagswelt, so weit und klar,
Und ob dem fernen Glockenklang allmälig
Entschlief er auf ein Stündchen sanft und selig.

Man hörte kaum die Menschen unten singen,
Im Himmel aber war es still und leer;
Nur an der Sternenuhr das Pendelschwingen
Klang langsam und gemessen hin und her,
Und mäuschenstill, in seligem Umschlingen,
Sah ich in deines Augs urtiefes Meer;
Da hatte plötzlich ich den Mut gefunden:
Bat um den ersten Kuß dich unumwunden.

"Um dreie von den Sternen, die dort schweben,
Geb' ich dir, Lieber, meinen ersten Kuß!"
So sagtest lächelnd du, mein süßes Leben;
Ich aber eilte, schon im Vorgenuß,
Die Goldnen aus den Angeln flugs zu erheben,
Und brachte sechse dir zum Überfluß;
Du aber drauf: "Wie mich die Dinger laben!
Um noch zwölf andre sollst den Kuß du haben!"

So ging es fort; verdoppelt immer wieder
Erhöhtest du den teuren Liebespreis;
Und zwiefach dürstend holte ich hernieder
Dir Stern um Stern aus ihrer Brüder Kreis.
Du schmücktest emsig deine schönen Glieder,
Verlachend heimlich meinen heißen Fleiß,
Und zu erkaufen meine höchste Wonne,
Blieb mir am Ende nur noch Mond und Sonne!

Ich brachte sie; und um die Stirne hingest
Die helle Sonne du mit stolzer Lust;
Mit Sternen du den Schwanenhals umfingest,
Der Mond erstrahlte mild an deiner Brust;
Dann himmelauf und ab du dich ergingest,
All' deiner Schönheit siegreich dir bewußt;
Von dir allein nun strömte alle Helle,
Ich lag vor dir, als vor des Lichtes Quelle!

Der Himmel ruhte noch im tiefsten Schweigen,
Wie vor dem Jüngsten Tag ein stilles Grab,
Und eben wolltest du dich selig neigen,
Gerührt, bezwungen, sanft auf mich herab,
Die süße Gunst mir endlich zu erzeigen,
Wofür ich Sterne, Sonn' und Mond dir gab:
Da brach ein Angstschrei durch des Himmels Hallen,
Als wollt die Welt aus ihren Fugen fallen.

Indem ich dir den Sternenschmuck errungen,
Hatt' ich die Welt um Licht und Zeit gebracht;
Des hatte sich die Klage aufgeschwungen,
Und schreiend lag die Erde in der Nacht.
Der erst so friedlich in den Schlaf gesungen,
Gott Vater ist da zornig aufgewacht,
Verweisend mich an meiner Schulter rüttelnd;
Du flohst davon, den Schimmer von dir schüttelnd!

Du flohst davon und lachtest mit Behagen,
Indessen ich mit saurem Schweiß begann
Die Sterne wieder alle fortzutragen,
Und sie zu ordnen mühsam mich besann.
So hatte sich der Handel schon zerschlagen,
Von welchem ich so bösen Lohn gewann!
Heut ist an dir das Träumen und das Dichten:
Willst du mir nun die süße Schuld entrichten? (S. 76-78)

Collection: 
1806

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VI.
Wohl ist die Lilie wunderbar,
Wenn stolz sie sich im Garten wiegt,
In ihrem Kelche, sonnenklar,
Langsam der Morgentau versiegt;
Doch mag ich gehn und wandern,
So weit nur Lilien stehn,
Ist keine vor der andern
Mit höherm Schmuck versehn.

...

V.
Viele Wochen sind entflohn,
Seit ich Dich gesehen;
Hab' auch lange Tage schon
Keine Blum' gesehen!

Keine Blumen und kein Lieb -
Ach was soll das werden?
Was soll aus dem Frühlingstrieb
In mir innen werden?

Zwar noch stets der Lenz...

IV.
Nun in dieser Frühlingszeit
Ist mein Herz ein klarer See,
Drin versank das schwere Leid,
Draus verdampft das leichtre Weh.

Spiegelnd mein Gemüte ruht,
Von der Sonne überhaucht,
Und mit Lieb' umgießt die Flut,
Was sich in dieselbe taucht.

...

III.
Sitzt man mit geschloßnen Augen
Einsam in dem dunkeln Zimmer,
Blitzt oft durch die zarten Lider
Plötzlich roter Kerzenschimmer;
Weiß ich doch, daß Sonnenstrahlen
Durch die Augendeckel dringen
Und in flimmernden Gebilden
Sich um unsre Seele...

II.
Durch's Frührot zog das Wolkenschiff
vor einem hellen Frühlingstag,
Als ich, ein träumend Schülerkind,
im morgenstillen Felde lag;
Ein Falter streifte meine Stirn,
und vor mir eine Lilie stand;
Ich aber schaute drüber hin
in's tiefe, blaue...