Vernunft und Herz

Baldohn, den 6ten July 1808

Die Vernunft, mit langsam-ernsten Schritten
Tritt sie kalt und prüfend in die Welt;
Nicht zu lenken und nicht zu erbitten
Ist das strenge Urtheil, das sie fällt.
Meinend, dass für Tugend und für Sitten
Sie mit fester Hand die Wage hält,
Muss des Guten und des Edeln Wissen
Langsam steigen aus den kalten Schlüssen.

Aber das Herz führt mit klopfenden Schlägen
Freudig die Menschen dem Guten entgegen,
Und es entscheidet und wählet im Nu.
Denn es bedarf nicht erst lange zu prüfen;
Heiliger Genien Stimmen die riefen
Sichere Kenntniss der Wahrheit ihm zu.

Die Vernunft lehrt schwere Pflichten üben,
Nur im Kampfe prüft sie ihre Kraft;
Dulden heisst sie, handeln, nur nicht lieben
Mit der Allgewalt der Leidenschaft.
Unbekannt mit freyen Herzenstrieben
Seufzt der Wille in der Regel Haft.
Mag in's Grab die Sehnsucht niederbeugen:
Sie gebeut - und die Gefühle schweigen.

Aber, entfesselt von drückendem Zwange,
Findet das Herz im melodischen Klange
Eigener Reinheit die freundliche Pflicht.
Nicht mit Gewalt an die Ernste gebunden,
Hat es sie liebend im Innern gefunden;
Treu der Erwählten, verlässt es sie nicht.

Wo die Sterne freundlich niederschauen,
Fragt Vernunft um ihren Schöpfer an;
Muss auf Schlüsse ihre Meinung bauen,
Bis den Gott sie mühsam finden kann,
Dessen Bild, nur sichtbar dem Vertrauen,
Ihr, der Zweifelnden, so leicht zerrann.
Mögen Welten leuchtend sich gestalten,
Messend will sie nur den Raum entfalten.

Aber das Herz hat in seligen Stunden
Schöner Gefühle den Gott schon gefunden,
Eh' ihn die kalte Vernunft nur gedacht;
Weckt in dem Auge die bebende Zähre;
Baut der Natur die geweihten Altäre,
Wo es Gebete und Opfer gebracht.
Und nicht ermessend die schreckende Ferne,
Schwingt sich das Herz an dem Strahle der Sterne
Hoch zu den kreisenden Sphären hinan;
Sinket am Throne des Ewigen nieder,
Kehret beglückter zur Erde dann wieder,
Weil es für diese den Glauben gewann.

Auch die Kunst, ein Bild des ewig Schönen,
Prüft Vernunft als strenge Richterin.
Nur bedächtig will die Weise krönen,
Giebt sich nimmer der Empfindung hin;
Giebt ein Mass dem Bildniss und den Tönen,
Nur die Regel nennt sie Meisterin.
Aus der Ordnung festgeschloss'nen Schranken
Darf der Schönheit leichte Form nicht wanken.

Doch: wie so freudig in Farben und Tönen
Lebt in dem Herzen das Bildniss der Schönen;
Tritt aus demselben lebendig hervor.
Und es erkennt sich in eigener Klarheit,
Und es bedarf nicht den Massstab der Wahrheit,
Weil es sie nimmer im Innern verlor.

Mag Vernunft mir meine Pfade leiten,
Wo ich mit dem kalten Leben rang;
Wo, gefesselt noch durch Raum und Zeiten,
Ich ihn fühle, meines Schicksals Zwang,
Und die ernste Regel auszudeuten
Nur der strengen Richterin gelang.
Aber dem Herzen, dem sey es gegeben,
Dieser Gefühle unendliches Leben,
Das mich dem Göttlichen näher gebracht.
Ha! die Begeisterung lässt mit Entzücken
Heller im Spiegel des Herzens erblicken,
Was ich empfunden und was ich gedacht.

Aus: Gedichte von Ulrich Freyherrn von Schlippenbach
Mitau 1812 Gedruckt bey J. F. Steffenhagen und Sohn

Collection: 
1812

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