Stumme Liebe

 
Kennst du dies hohe, himmlische Empfinden,
Den Geistergruß aus unsichtbarer Welt?
Die Seligkeit, der alle Gränzen schwinden,
Die Lust, die Menschen neben Götter stellt?
Den süßen Schmerz, das hoffnungsvolle Bangen,
Die still gepflegte, liebgewordne Pein,
Dies unruhvolle, sehnende Verlangen,
Den flücht'gen Zorn, das schönere Verzeih'n?

Kennst du die Liebe, war sie dir bekannt,
So hast du nie bei'm Namen sie genannt! -

Nein, wahre Lieb' hüllt sich in tiefes Schweigen,
Selbst lichtgeboren, scheut sie doch das Licht,
Die weite Welt, der Himmel ist ihr Eigen,
Doch das Asyl des Herzens läßt sie nicht.
Mit ihren Klagen flieht verschämt die Sonne
Die süßbewegte, holde Nachtigall;
Im Dunkel nur weilt sicher Glück und Wonne
Und im Geheimniß ruht der Zauber all.

Kennst du die Liebe, war sie dir bekannt,
So hast du nie bei'm Namen sie genannt! -

Sie ruht so still, umwogt von Lust und Sorgen,
So treu von der Gedanken Schaar bewacht,
In tiefer Seele, jedem Blick verborgen,
Wie laut'res Gold im unbefahrnen Schacht.
Wag' beiden nicht den Stempel aufzudrücken,
Sie geh'n von Hand zu Hand, von Mund zu Mund,
Ach, und dein reines, heiliges Entzücken
Wird, ausgeprägt, der kalten Menge kund.

Kennst du die Liebe, war sie dir bekannt,
So hast du nie bei'm Namen sie genannt! -

Und will die lang verhalt'ne Flamme dringen
Aus ihrem Zwange siegend himmelwärts,
Und möchte laut von deiner Liebe singen
Dein froher Mund, dein hochentzücktes Herz:
So juble sie hinauf die Weltenbahnen,
Leih' andern Sternen deiner Sonne Glanz,
Doch wer sie selber ist, darf man nur ahnen,
Denn wahres Glück hüllt sich in Schweigen ganz.

Kennst du die Liebe, war sie dir bekannt,
So hast du nie bei'm Namen sie genannt! –

Collection: 
1714

More from Poet

  •  
    Lieb' ist die Sonne, das Herz ist die Rose,
    Die noch umknospet von schützendem Moose
    Schlief
    Ruhig und tief,
    Bis in das Leben ein Lichtstrahl sie rief.

    Lieb' ist ein Stern und das Herz ist die Welle,...

  •   (Morgenroth und Abendroth)
    Eine esthnische Volkssage, bearbeitet nach einer Mittheilung des
    Herrn Dr. Fr. Faehlmann
      Eine kurze Wonnezeit, die lieder- und blumenreiche der kürzesten Nächte, entschädigt die...

  •  
    Kennst du dies hohe, himmlische Empfinden,
    Den Geistergruß aus unsichtbarer Welt?
    Die Seligkeit, der alle Gränzen schwinden,
    Die Lust, die Menschen neben Götter stellt?
    Den süßen Schmerz, das hoffnungsvolle Bangen,...

  •  
    In den Straßen, welch' ein Wogen!
    Wohin drängt das Volk in Eile?
    Aus der Fremde hergezogen
    Tanzen Gaukler auf dem Seile.

    Wie die kühnen Sprünge glücken!
    Bravo! schallt's aus jedem Munde,
    Und...

  •  
    Ich grüße dich, du Schönster unter Schönen,
    Ich grüße dich in deinen Feierhallen!
    Umringt von deinen jubelnden Vasallen,
    Will ich, dich preisend, meinem Drange fröhnen.

    Du lachst in Blüthen und du sprichst in Tönen,...