Phantasie und Liebe

Alte Tempel, Burgen, Hütten,
Die kein Auge je gesehen,
Lässt oft Phantasie entstehen,
Und mit schnellen flücht'gen Schritten
Zieht sie fort durch weite Lande,
Über Ströme, über Seen,
Über ferne Bergeshöhen,
Denn nur sie trägt keine Bande.
Aber was aus lieben Händen
Irgendwo sich hat gestaltet,
Wenn auch Kunst nicht in ihm waltet,
Das wird Phantasie vollenden,
Legt in jedem flücht'gen Zuge
Alle ihre reiche Schöne,
Bilder so, und süsse Töne
Sammelt sie auf ihrem Fluge.
Nichts ist gross und nichts geringe,
Hat nur Liebe es erfunden,
Dass es spurlos nicht entschwunden,
Und verloren unterginge,
Weiss schon Phantasie zu sorgen;
Darum ist ihr himmlisch Leben
Nur zum Lieben uns gegeben,
Sie selbst ew'ger Liebe Morgen.

Aus: Nachgelassene Gedichte
von Ulrich Freyherrn von Schlippenbach
Mitau gedruckt bey J. F. Steffenhagen und Sohn 1828

Collection: 
1812

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