Märchen

Es geht im Volksmund eine alte Mär:
– Im Waldesgrunde sei ein schöner Prinz
zum Quell verwandelt einst durch Zauberspruch,
weil er des Weibes Liebe leugnete
und lachend sagte: „Keine Frau ist treu.“
Die Sage, daß bei klarem Vollmondschein
ein reines Mägdlein den verwunschenen Wald
aufsuchen müsse, um mit einem Trunk
den Bann zu lösen, drang auch an mein Ohr;
und heimlich, aber um so mächtiger,
nährt ich in mir den glühendheißen Wunsch,
ihn zu befrein und – zu bekehren dann ....

’s war Winternacht. Am Himmel stand der Mond,
rings Sterne, strahlend hell im Silberkranz;
die Erde deckte längst ein Leichentuch,
und Eisespanzer hielten See und Quell
in starrer Hast, wie alles um mich her.

Nur ich war frei! Frei wie der Aar, der hoch
dort oben in den Lüften kreist am Tag
und stolz herniederblickt auf das Gewürm,
das auf der Erde kriecht im Alltagsstaub.
Ich hatte oft der Mär vom Quell gedacht,
sogar wenn ich an Flüssen, Strömen stand,
fiel sie mir ein, und Sehnsucht namenlos
erfaßte mich – und seis ein einzig Mal –
aus ihm zu trinken einen tiefen Zug;
denn durstgequält war ich bei Tag und Nacht.
Ach, nach der Quelle zogs mich mit Gewalt
dämonisch hin wie niemals noch zuvor.

Rings tiefes Schweigen. Nur ein Windhauch strich
durch alte Föhren; welkes Eichenlaub
und Zweige vom Novembersturm zerknickt
zertrat mein Fuß, der hastend vorwärts schritt
zu dem so lang, so heiß ersehnten Ziel.
Ein Grenzpfahl ragte geisterhaft empor,
wo das Gelände von dem Zauberwald
geschieden ist von Hirschpark, gerad als wollt
er sagen mir: „Bedenke, was du tust,
mit Beten und Fasten kannst du nicht
verlöschen mehr den Schritt, wenn er getan.“
Und lange, lange stand ich sinnend da.

Klar wollt ich sein, ob auch die Neugier nur,
vielleicht der Reiz, Verwunschenes zu sehn,
mich herzog. Ach, daß es ganz anders war,
ahnt ich noch nicht, da mir die Liebe ja
fremd bis zu jener heilgen Stunde bleib.
Da endlich, endlich war ich mir bewußt,
weshalb ich ging. Verlangen heftete
sich an die Fersen mir; beflügelte,
wenn es noch möglich war, den raschen Schritt,
denn rastlos, haltlos, leidenschaftdurchbebt
strebt ich zum Ziel, dem demantklaren Quell.
Still lag er vor mir in des Winters Bann,
der ihn mit weißem, eisig kaltem Arm
gefangen hielt. Ich aber neigte mich,
den Kampf zu wagen mit dem strengen Herrn,
zu ihm hinab und preßte meinen Mund,
die Lippen, glühendheiß von Durst gequält,
so lang darauf, bis daß das Eis zerschmolz,
bis daß der Winterschnee vor mir entfloh;
bis ich den Trunk, nach dem ich mich so heiß,
verschmachtend fast gesehnt, jetzt lechzend trank....

Ich hab den Quell im Zauberwald für mich
jetzt aufgeküßt aus tiefem Winterschlaf,
befreit vom Bann, der lange auf ihm lag.
Und mit der Menschenseele, die ich ihm
einhauchte, löste ich den Zauberbann
und gab ihm jenen schönen Glauben wieder
an etwas Heilges, den er längst verlor:
den Glauben an das Weib und seine Liebe.

Collection: 
1905

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