Laß mir im Aug' die Thräne beben!

Laß mir im Aug' die Thräne beben,
Sie ward ja nicht aus Schmerz geweint.
Siehst du doch auf der Blume schweben
Den Tau, wenn ihr der Tag erscheint.

Sie stund die lange Nacht in Trauer,
Geschloßnen Auges trüb und schwer;
Frühmorgens fiel ein kühler Schauer,
Lag dichter Nebel rings umher.

Doch mit der Sonne kam gezogen
Hoch vom Gebirg der junge Tag;
Da war der Nebel bald verflogen,
Bis er im Kelch als Perle lag.

So schwand die Nacht aus meinem Leben
Durch dich, du sonnengleiche Frau.
Laß nun im Aug' die Thräne beben,
Es ist im Blumenkelch der Thau.

Collection: 
1894

More from Poet

  • Gedenk' ich dein zur Stunde,
    Du, die ich längst verlor,
    Blüht mir im Herzensgrunde
    Ein Frühlingstag empor
    Voll Blumenduft und Sonnenschein,
    Und Kinderstimmen jubeln drein -
    Gedenk' ich dein zur Stunde,
    Du...

  • Die Sonne ist hinabgesunken,
    Es geht der müde Tag zur Ruh';
    Gekehrt nach innen schließt sich trunken
    Der Blume holdes Auge zu.

    Doch einen letzten Strahl der Sonne
    Barg sie im tiefen Kelche sacht;
    Der soll von...

  • Du musterst, hold zu mir geneigt,
    So seltsam lächelnd Haupt und Bart;
    Du schelmisch Kind, hast du vielleicht
    Gar schon ein weißes Haar gewahrt?

    Bei Gott! das ist der erste Reif,
    Der unvermerkt aufs Haupt mir fiel;
    ...

  • Dort sinkt hinab der Frühlingsabend,
    Verklärt im gold'nen Purpurschein,
    Und still kehrt, Lust und Leid begrabend,
    Sein Frieden mir im Herzen ein.

    Und wie die Glocken fern verklingen,
    Ist auch des Tages Lärm verhallt;...

  • Wir schieden stumm; nur einmal hat
    Nach mir sich noch dein Haupt gewandt,
    Hat mir dein Aug' an Mundes Statt
    Den letzten lieben Gruß gesandt.

    Doch lag in diesem einen Blick
    Der reichsten Liebe Seligkeit,
    Daß er in...