Dich liebt ich nicht,
Ob dir die Lippe auch von Liebe sprach!
Dich liebt ich nicht,
Ob aus dem Auge auch Begeistrung brach!
Dich liebt ich nicht,
Ob ich's auch selbst im Traume nicht geglaubt!
Dich liebt ich nicht,
Ob du auch meinen Frieden mir geraubt!
Den ich geliebt,
Das war ein vielmal größerer als du!
Den ich geliebt,
Der strebt mit mir den höchsten Höhen zu!
Der war mir gleich,
War ebenbürtig mir, war mein Genoß.
Ein Denken schied,
Ein Fühlen trennte uns vom großen Troß!
Dich liebt ich nicht!
Dir gilt die Thräne nicht, die heut ich wein':
Dem hehren Traum,
Der mir versunken ist, gilt sie allein!
Ich weiß es heut':
Aus meiner Seele nahm ich all den Glanz,
Den ich dir lieh:
Welk fällt von deinem Haupt der fremde Kranz.
Dich liebt ich nicht!
Geliebt hab ich mit Herzensallgewalt
Das eig'ne Werk:
Ein Wahngebild nur - eine Luftgestalt!
aus: Unsere Frauen in einer Auswahl aus ihren Dichtungen
Poesie-Album zeitgenössischer Dichterinnen
Von Karl Schrattenthal
Mit zwölf Porträts in Lichtdruck
Stuttgart 1888