Frühlingstrunkenheit

 
Ich gehe umher in Träumen,
Ich weiß nicht, wie mir ist.
Dies Heben - dies Verlangen -
Der Lenz hat mich geküßt!

Ich bin ein kleines Vöglein,
Das hoch herunter sieht
Auf Wald und Strom und Berge
Und singt ein trillernd Lied.

Ich bin die schwanke Woge,
Die fern an Felsen schlägt;
Ich bin die kleine Rose,
Die sie am Busen trägt;

Ich zieh mit Silberschwänen
Die Kreise durch den See,
Und in mir singt wie Schwäne
Sehnsüchtig Lust und Weh!

Es wehn mir Mädchenlocken
Und Küsse um den Mund;
Ihr blauen, schwarzen Augen
Macht krank mich oder gesund.

Das ist ein seltsam Treiben
Und wunderbar Elend.
Bedeuts Liebesanfang?
Bedeuts Liebesend?

Ich bin nicht froh, nicht traurig,
Gesund nicht und nicht krank.
Ich habe wohl getrunken
Von einem Zaubertrank?

Der Lenz hat einen Becher,
Geformt aus blauer Luft,
Gefüllt mit Lieb und Liedern
Und Blum und Waldesduft;

Und hat mich aufgehoben
Mit seiner weichen Hand
Weit über alle Berge
Bis an des Bechers Rand.

Den hab ich ausgetrunken
Bis auf den tiefsten Grund;
Dann hat er mich geküsset
Mit seinem roten Mund.

Dann warf er mich kopfüber
In all die Blumen hin;
Da ists denn wohl kein Wunder,
Wenn ich nicht bei mir bin.

Ja ich bin frühlingstrunken,
Der Lenz hat mich geküßt,
Drum irr ich sinnend und träumend
Und weiß nicht, wie mir ist.

Collection: 
1891

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