Wie die Gräser morgentaulich

 
Wie die Gräser morgentaulich
In dem Licht der Sonne blinken,
Wie die Fluren maienaulich
Noch des Frührots Nebel trinken,
Wie von Blüte zu der Blüte
Sich des Sommers Fäden winden,
Daran Tröpfchen, lichtdurchsprühte,
Sich zur Perlenschnur verbinden.

Scheint es doch, als ob Natur sich
Jüngst enthoben ihrem Bette
Und als fände noch die Spur sich
Ihrer Morgentoilette;
Als ob Schmuck und Busenschleier
Eilend sie vergessen habe,
Daß sie ungezwungner, freier,
Sich der frischen Luft erlabe.

Schleich' ich leis zu meinem Holdchen,
Sie zu schau'n bei Frührotsschimmer,
Finde ich das lose Goldchen
Nicht im Bettchen, nicht im Zimmer.
Alle Scheiben hauchbeschlagen,
Feucht gesundheitliche Frische,
Häubchen, Spangen, Band und Kragen
Holdverwirrt auf kleinem Tische.

Sitz' ich auf dem Stuhle nieder
An dem warmem, leeren Bette,
Prüfe ihrer weichen Glieder
Reizumwob'ne Ruhestätte;
Möchte an den Atem halten,
Daß nicht störe mich sein Rauschen,
Die Natur in ihrem Walten
Durch die Liebe zu belauschen.

aus: Deutsche Lyriker seit 1850
Mit einer litterar-historischen Einleitung
und biographisch-kritischen Notizen
Herausgegeben von Dr. Emil Kneschke
Siebente Auflage Leipzig Verlag von Th. Knaur 1887

Collection: 
1850

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