Nimmer fand ich die Liebe ...

O Liebe, klär' mit milden Händen
Den wahnumfangnen Menschengeist;
Erbarmend schenke Götterspenden,
Der gläubig dir die Seele weist;
Und wessen Hand entsinkt das Steuer
In Daseinskämpfen Sturmgewalt,
Dem reiße von der Stirn den Schleier
Und zeig' des Lebens Goldgehalt.

Wohl haben Menschen hart gestritten,
Gekämpft in heißer Geistesschlacht,
Daß aus dem Abgrund niedrer Sitten
Erblüh' der Liebe Wundermacht;
Doch heute, wo Dämonen drohen
Der holden Himmelskönigin,
Ist sie dem Menschenherz entflohen,
Und nimmer weiß die Welt, wohin.

Was Edles uns durchglüht, das höhnen,
Frech lachend, finstre Geister fort,
Daß unsre Seelen Saiten tönen
In einem einz'gen Schmerzakkord.
Und wenn wir tief zu fühlen wähnen,
Der ganzen Menschheit Erdennot,
Wie ist sie matt, die Lust der Thränen!
Und unser Herz, wie kalt und tot!

Die Menschheit jagt auf wilden Wegen,
Mit stierem Blick, dem Irrlichtschein
Der feilen Sinneswelt entgegen,
So mitleidslos wie Felsgestein.
Zur Rechten Tod, zur Linken Sterben,
Vorüber braust der Menschenstrom,
Hier fällt und dort ein Herz in Scherben,
Zerstampft, ein nichtiges Atom.

Mit heißem Atem, nimmer rastend,
Im Blick die wilde Gier nach Raub,
Zertritt die Menschheit, weiter haftend,
Des Busens Blüten in den Staub;
Doch nimmer schau' ich reine Triebe,
Und Herzen, edel und gerecht,
Denn nur aus tiefster Menschenliebe
Erblüht das neue Hochgeschlecht. -

aus: Aus bewegten Stunden Gedichte (1884-1888)
von Ludwig Jacobowski
Zweite veränderte Auflage Dresden und Leipzig 1899

Collection: 
1884

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