Neujahrspredigt

Laßt uns, Freunde, ins neue Jahr
Eingehn wie in ein schönes, gesichertes Haus,
In dem die Liebe und der Friede wohnt
Und Schönheit überall heimisch ist.

Und laßt uns, Freunde, heiter gelassenen Sinns,
Mit keinem Haß belastet, ohne Neid,
Heil, liebe Freunde, im starken Herzen, laßt uns
In dieses neue Haus einziehn, und lachend.

Wir sind wohl keiner wundenlos, unversehrt,
Und jeder spürte, daß Niederträchtigkeit
Sehnenkräftige Bogen und giftige Pfeile hat,
Und daß der Dummheit Kartaunen nicht bloß brüllen,
Sondern auch vieles zerstören können, das
Mit Mühe und Kunst errichtet ward, – und, ach,
Des Schlimmsten wurden wir uns wohl auch bewußt,
Daß Schwachheit unser Teil ist und irgendwo
Jeder, wie fest er gefügt sich dünke,
Locker und undicht ist im Baue.

Das aber, Freunde, fechte uns nicht an!
Wir wollen tapfer sein und, gilts Gefecht,
Mit Lachen in den Feind gehn, da wir ja
Als Edle kämpfen und dem Troß voran
Als Wissende: Es ist die Kraft in uns,
Allein zu stehn, gemeiner Art entrückt.
Wenn aber Dumpfheit alles niederschlägt
Und Kampf nicht lohnt und Widerwillen uns
Erfassen will, so wollen wir, Freunde, nicht
Mit Trübsal abziehn, sondern heiter
Das Schwert der Scheide schenken und mit Gesang
Den Schritt wegwenden in die Einsamkeit.
Dies, liebe Freunde, ist nach meinem Sinn,
Vielleicht das Beste, das das Jahr bescheren mag:
Verborgenheit und Ruhe in uns selbst.

Wohl dem, der dies erfährt, doch selig der
(Wie selig, weiß ich, der es nun erfuhr)
Der nicht allein in dieses schöne Haus
Gelassener Beschaulichkeit zu gehen braucht.
In Einsamkeit vereint, das ist mein Spruch,
Und dies mein Wunsch, daß jeder, der es wert,
Voll aus, bis auf den Grund ausfühlen möge, welch ein Glück
Dies Wort umschließt: In Einsamkeit vereint.

Collection: 
1906

More from Poet

  • Daß deine Hand auf meiner Stirne liegt,
    Wenn mich das Sterben in der Wiege wiegt,
    Die leis hinüber ins Vergessen schaukelt,
    Von schwarzen Schmetterlingen schwer umgaukelt.
    Ein letzter Blick in deine braunen Sonnen:
    Vorüber...

  •  
    Dämmerung mit den milden, grauen Augen
    Schreitet über die Erde.
    Kühl weht ihr Atem,
    Weich und kühl,
    Milde wie ruhiger Atemzug
    Eines schlummergeküßten,
    Backenroten Kindes.
    An lauschender...

  •  
    Charlotte, lotte, lotte,
    Heißt meine Wäscherin,
    Sie bringt mir selbst die Wäsche,
    Weil ich ihr Liebster bin.

    Und hat sie nichts zu bringen,
    So kommt sie ohne was,
    Kein Tag geht ohne Lotte,...

  •  
    Auf einem jungen Rosenblatt
    Mein Liebster mir geblasen hat
    Wohl eine Melodei.
    Es gab mir viele Dinge kund
    Das Rosenblatt am roten Mund
    Und war kein Wort dabei.

    Und als das Blatt zerblasen war,
    Da...

  • Pandora
    Als ich heute früh im schönen Parke,
    Der voll lauter Birken steht, spazierte,
    Sah ich (nun, ihr brauchts ja nicht zu glauben)
    Eine nackte Dame auf mich zugehn.

    - Sag, wer bist du, sprach ich, nackte...