Memento mori

 
O hätt' ich einmal dir noch können sehn
Ins braune Aug', das gleich der ew'gen Flamme
Die todesmüde Seele mir durchhaucht. -
Aus ferner Kinderzeit
Tönt noch in meinem Ohr
Der süßen Stimme Laut,
Mit der du oft gegrüßet
Mich um die Dämmerzeit,
Wenn mit geheimen Fäden
Mein Sinnen und mein Träumen
Zu dir zog.
Wenn deine Hand so fest die meine
Preßte ans ungestüme Herz,
Wie zog in mir dann froh die Ahnung
Auf von einem hohen künft'gen Glück.
Da rief das Schicksal dich hinaus ins Leben;
Du folgtest gern und sogst
Es ein in vollen Zügen
Und hattest in des Glückes gold'ner Fülle
Nur gar zu bald vergessen,
Was weinend mir beim Scheiden
Du versprachst.
Denn ach, gar bald zogst eine andere
Blume du ans Herz,
Und jubelnd sangst du ihr dieselben
Lieder, die meine stille Kammer
Zum heil'gen Tempel einst geweiht.
Sie saß auf deinen Knie'n, aus weißer
Stirn die schwarze Seidenlocke sanft dir streichelnd,
Wie ich es oft gethan vor Jahren,
Wenn deine Sorge du mir klagtest
Und mir mit süßem Kuß
Die Worte von den Lippen nahmest. -
O hätt' ich einmal dich noch können sehn!
Wie du vom Glück umflossen
Auf der Höhe standest,
Um jäh darauf in Todesnacht zu sinken.
Im Arm der Liebe schliefst du ein auf ewig.
So ungeahnt gleich einem Sieger,
Der vor der Heimat Schwelle
Rücklings erschlagen wird. -
Mit wie viel Thränen man
Auch deinen Tod beweinet,
Wie dein verlassen Lieb trostlos die Hände rang,
Ich kann das alles nicht.
Ich kann nur beten, morgens, mittags, abends:
O, hätt' ich einmal dir ins Aug' noch können sehn!

Collection: 
1897

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